Freitag, 7. September 2018

#indieseptember Woche 2: Grusel, Horror, Spannung

Grusel, Horror, Spannung: Das ist das Thema der zweiten Woche meiner kleinen #indieseptember-Reihe. Warnung: Nur weiterlesen, wer starke Nerven hat und in der Lage ist, einen VIEL ZU LANGEN Blogpost durchzulesen. Wer tl;dr-Kommentare hinterlässt ist trotzdem ein liebenswerter Mensch. Es ist schon viel über das Thema gesagt worden, aber eben noch nicht von jedem (frei nach Karl Valentin). Falls ich aber wiederholen sollte, was klügere Leute präziser formuliert haben: Weist mich in den Kommentaren oder auf Twitter (@phexbasar) darauf hin. Danke!

ScarSacul wies mich kürzlich auf die Aufzeichnung einer Diskussionsrunde zum Thema Horror hin, bei der sich Gesprächsrundenleiter Frosty (@CFhtagn; YouTube-Channel) mit Scar (@ScarSacul), Daniel und Stefan von System Matters (@SystemMatters) sowie Markus (@wienna), die eine Hälfte vom 3W6-Podcast (@3w6pc), über das Thema austauscht. Ich kann die Diskussion empfehlen, es werden viele gegensätzliche Standpunkte vertreten und diskutiert und mit Beispielen aus diversen Horror-Rollenspielen wie Dread, Cthulhu oder Ten Candles unterfüttert. Man merkt den Diskutanten an, dass ihnen das Thema am Herzen liegt, auch wenn sie teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen davon haben, was das Thema eigentlich ist. Also gebe ich, gewohnheitsmäßiger late to the party-Kommer, hier einfach ein halbes Jahr später noch meinen Senf dazu.

Ich habe mich gefragt, ob man mit Fragewörtern das Genre besser unterteilen kann (es soll keiner sagen, man könne vom Sesamstraßenlied "Wer, wie, was?" nichts lernen). Das ist etwas schematisch und wie alle generischen Definitionen und Unterteilungen leicht aus den Angeln zu heben (wie jede*r Student*in von mir in der Vorlesung "Einführung in Literaturwissenschaft" schmerzvoll erfahren muss). Wichtig zu erwähnen, dass diese Abgrenzungen bestenfalls eine Art Idealtypus im Sinne Max Webers sind. In Reinform kommen sie sicherlich kaum in Filmen, Romanen oder Computerspielen vor.
  • Was-Horror: Was ist das für ein Monster/eine Bedrohung/ein Grauen? Beispiel: Die ersten 2/3 von Stranger Things, Season 1. Ab den letzten 2-3 Folgen ist das Monster etabliert und bekannt, es gleitet ab in Wie-Horror (siehe unten). Angst entsteht aus der Frage danach, was eigentlich genau in der Dunkelheit lauert. Ein übernatürliches Monster oder "nur" ein Mensch, ganz gleich wie grausam und gewalttätig? These: Je unspezifischer das "Was", desto größer die beklemmende Angst.
  • Wer-Horror: Vielleicht eine Spielart von Was-Horror. Möglicherweise aber auch spezieller, wenn das "Was" bereits etabliert ist (der Serienkiller mit der verzerrten Maske in Scream), aber noch nicht, wer genau hinter der Maske steckt. Bei "Wer" kommt die Spannung aus der Frage nach der Identität. Aber die Frage kann auch Grauen und Entsetzen generieren ("Was, der?! Der sieht so harmlos aus wie mein Nachbar!").
  • Wo-Horror: Räume sind wichtig, weil es (frei nach Juri Lotman) zwei Sphären der erzählten Welt gibt, die durch eine Grenze getrennt werden, welche die Held*innen der Geschichte überschreiten müssen/wollen/sollen. Die Semantik des einen Raums ist "sicher", die des anderen "tödlich". Die Nightmare on Elm Street-Filme sind hier ein gutes Beispiel. Die wirkliche, wache Welt ist sicher; die Schlaf-und-Traum-Welt wird von Freddy Krueger beherrscht. Das Gefühl der Angst entsteht oft dadurch, dass es unklar ist, ob die Figur gerade wacht oder träumt. The Upside Down in Stranger Things ist ein weiteres Beispiel (wenngleich erkennbarer abgegrenzt als in den Freddy-Filmen).
  • Wann-Horror: Grusel und Horror durch Zeit spielt sicher in vielen der unheimlicheren Doctor Who-Episoden eine Rolle (ich liefere gute Beispiele nach, wenn sie mir einfallen). Aber auch bei Freddy Krueger geht es um Zeit. Da Schlafen und Träumen tödlich ist, versuchen die Protagonist*innen des Films so lange wie möglich nicht einzuschlafen. Da sie aber menschliche Wesen sind, wissen wir, dass sie dem Horror mit den Messerhänden nicht auf Dauer werden entgehen können und jede Sekunde die vergeht fügt potenziell mehr Angst hinzu.
  • Warum-Horror: Ich fand es immer schön, wenn das Warum in Horrorfilmen und Psychothrillern nicht zu stark in den Vordergrund tritt. Psycho ist in den letzten 5 Minuten ein schwacher Film (abgesehen von der Schlusseinstellung in der Zelle und dem Auto im Sumpf): Hier wird das "Warum" geliefert, ganz undramatisch durch den Vortrag eines Psychoanalytikers (telling > showing). Hitchcock war selbst damit unzufrieden. Ich erinnere mich selbst noch daran, wie enttäuscht das 12-jährige Ich am Ende von Falling Down war, als das "Warum" geliefert wurde. Es scheint mir, als ob das "Warum" ein guter Motor für das Unbehagen ist ("Warum macht der so was Schlimmes?" oder "Warum gibt es solche bösen Serienmörder?"), aber am Ende eher rückwirkend einiges vom Film zerstört. Ausnahmen bilden vielleicht die in den 1990ern und frühen 2000ern so beliebten Mindgame-Filme wie Memento, Shutter Island, Se7en u.ä. (bzw. deren Computerspiel-Varianten wie etwa Bioshock).
  • Wie-Horror: Das "Wie" kennzeichnet Verfahren und Methode: einerseits des Monsters (wie tötet es, welche grausamen Praktiken verwendet es bei der Jagd etc.), andererseits der Protagonist*innen: Wie jagen/besiegen sie das Monster (wenn überhaupt). Ersteres ist oft mehr expliziter Splatter. Aber natürlich nicht nur. Ein Teil des Unbehagens an Hannibal Lecter entsteht dadurch, dass wir uns nur vorzustellen brauchen, wie er einen Menschen verspeist. Letzteres, die Monsterjagd, fällt oft eher ins Action-Genre, mit schnelleren Schnitten und viel Crosscutting und der üblichen Dramaturgie von Teilerfolg vs. Teilrückschlag.

Wer? Wie? Was? Nightmare on Sesame Street.

Meister des Genres schaffen es, ihr Publikum sehr lange über das genaue Genre im Unklaren zu lassen oder zu täuschen. Parade-Beispiel wäre Hitchcocks Psycho. Bevor klar wird, dass es überhaupt eine Art von Horror-Film ist und nicht eine Diebstahl-aus-Leidenschaft-Geschichte ist der Film schon zu einem Drittel rum. Dann etabliert Hitchcock das Was (Messer-Mörder), scheinbar das Wer (die alte Mrs Bates), so dass sich die Spannung aus dem Wie ergibt (wie die mordende Mrs Bates zur Strecke bringen, wenn ihr Sohn sie so gut vor der Welt beschützt?), nur um am Ende zu offenbaren, dass wir die ganze zweite Filmhälfte über auf das falsche Wer gesetzt haben. Das zweite Mal, dass man Psycho schaut, ist dann in der Regel auch eine grundlegend andere Erfahrung, als das erste Mal.

Die generische Unterscheidung nach Fragewörtern ist primär eine formale. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit wäre eine affektive. So sagte Aristoteles bekannterweise, die Primäraffekte der Tragödie seien eleos und phobos (dt. Mitleid/Furcht oder Jammer/Schaudern). Die der Komödie das Gelächter (vermuten wir; der zweite Teil der Poetik ist, wie jede*r weiß, die*der Umberto Ecos Name der Rose gelesen/gesehen hat, verloren gegangen). Horror hingegen würde auf Affekte der reinen Angst abzielen (weniger also auf phobos, die Furcht, die ein Objekt hat, sondern auf die existenzielle, weil objektlose, Angst im Sinne Kierkegaards). Und so könnte man weitere Genres nach Primäraffekten voneinander abgrenzen.

Tja, und Horror im Rollenspiel? Das ist ein weites Feld, wie der alte von Briest sagen würde. Aber wenn man das Genre in Fragen unterteilt, merkt man schnell, wie viel von der Beantwortung abhängt, also von der Informationsverteilung. Wissen die SCs was für eine Bedrohung ihnen gegenübersteht, wer dahinter steckt, wo sie auftritt und wann, warum sie tut was sie tut, und wie sie es tut und zu stoppen ist? Oder wissen sie es nicht? Sobald sie die Antworten auf alle diese Fragen kennen, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit aufhören, ein Horror-Spiel zu sein. Kannten sie sie von Anfang an, war es wohl nie eins. Horror und Grauen stellt Fragen, deren Antwort unendlich schrecklich sein könnte. Das Unwissen erzeugt die Angst.

Hier greift auch ein Beispiel, das in Frostys Diskussionsrunde diskutiert wird: Hitchcocks Bombe unter dem Sitz (Hitchcock selbst war zwar erklärter Gegner des Horror-Genres, was einen jedoch nicht davon abhalten muss, Psycho und The Birds als Horrorfilme zu klassifizieren). Zwei Leute sitzen auf einer Bank unter der eine Bombe angebracht ist. Geht sie hoch ist das grausam aber nicht besonders spannend. Wissen wir, dass sie da ist und tickt, wird es spannend. Suspense. Suspense lebt von der dramatischen Ironie, wie beim Horrorfilm, wie Scream erklärt hat: Die*der Gejagte rennt nach oben, obwohl sie*er dort in der Falle ist oder das Monster genau dort lauert, wie wir wissen (Wo-Horror).

Ich werde also eine Reihe von kleineren Indie-Rollenspielen vorstellen, die hoffentlich ein breites Spektrum der hier gestellten Fragen (wer, wie, was...) darstellen. Ich möchte diesen viel zu langen Blogpost aber nicht ohne einen Disclaimer beenden: Ich bin absolut kein Experte in dem Genre. In den meisten Medien (Film, Roman, Computerspiel) mag ich Horror noch nicht mal besonders und schalte meistens nach dem ersten Jump-Scare aus. Ja tatsächlich, so zart besaitet bin ich...  (zum Glück bin ich da nicht ganz allein, wie ich neulich bei Der Nerd gegen Stephan auf Twitter lesen konnte, @caughtinplay). Wenn ich nur das Wort "Zombie" höre, schalte ich meine Ohren auf Durchzug. Und sollte mich irgendwann eine ältere Frau mit Messer in der Dusche aufsuchen, ich würde garantiert vor Schreck tot umfallen, bevor sie überhaupt Gelegenheit hätte, zuzustechen.

Aber man soll aus seinen Schwächen Stärken machen... hab ich mal auf dem Schulhof gehört. Das Gute ist: Ich habe exakt einmal Cthulhu und vielleicht 3x WoD in den 1990ern gespielt, bin also fast ganz ohne Horror-Spiele durch mein Rollenspielleben gekommen (und habe erst letztes Jahr meine Liebe für Ten Candles entdeckt, aber das ist ein anderes Thema). Ich werde also nicht die kleinen Indie-Games an den Genre-Größen messen, weil ich diese gar nicht kenne.

Genug geschrieben, liest ja kein eh keiner ganz durch. Also, Horror, Grauen, Entsetzen. Bitte sehr.

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