Montag, 28. Juni 2021

Kunstwerk und Künstler*in voneinander trennen?

Kunstwerk und Künstler*in voneinander trennen: Diese Aufforderung wird oft missverstanden, insbesondere, wenn man damit einen unkritischen Genuss von Werken rechtfertigen möchte, deren Künstler*innen sich durch massives soziales Fehlverhalten hervorgetan haben. 

Zunächst mal: Wo kommt die Trennung überhaupt her? Aus der Literaturwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts. In Russland durch den sog. “Russischen Formalismus”, in den USA durch den sog. “New Criticism” und im dt.-sprachigen Raum (mit einer gewissen Verspätung) durch die sog. “werkimmanente Interpretation”.  Dass sich in drei Bereichen der Welt diese Trennung unabhängig voneinander vollzog, zeigt, dass es den Beteiligten darum ging, gegen eine dominante Art der Kunstinterpretation anzuschreiben: den sog. Biografismus.

Werkimmanenz vs. Biografismus

Dem Biografismus zufolge konnte man Kunstwerke nur verstehen, wenn man deren Künstler*innen “verstanden” hatte, also durch penible Kenntnis der jeweiligen Biografie. Warum empfanden das die o.g. Gruppen als problematisch? Ich nenne vier zentrale Gründe:

  1. Weil es die Bedeutung von Kunst jenseits ihrer Schöpfer*innen infrage stellte (paradoxerweise ist in dieser Sicht der Wert von, sagen wir, Hamlet, uns “Shakespeare” näherzubringen, obwohl “Shakespeare” der nötige Schlüssel zu Hamlet ist; das ist so zirkulär, dass einem schwindelig wird...).
  2. Weil es impliziert, dass sich bestimmte Kunst ohne (erkennbare) Künstler*innen nicht angemessen begreifen lässt (Volkslieder und -märchen, anonym/pseudonym veröffentlichte Werke, religiöse Texte, Höhlenmalereien usw.); das betrifft auch die Werke solcher Künstler*innen, bei denen die Biografien unvollständig sind (Shakespeare, Homer) oder offensichtlich massiv redigiert wurden (Jane Austen).
  3. Weil es Literaturwissenschaft auf Literaturgeschichte reduziert (analog Kunstwissenschaft auf Kunstgeschichte etc.) und ignoriert, dass diese aber legitime Kriterien zur wissenschaftlichen Analyse von Kunst etabliert hat, die auch jenseits von Biografismus funktionieren.
  4. Weil es in der Praxis sehr spekulativ (sprich: unwissenschaftlich) blieb, ob z.B. eine private Enttäuschung oder Trauer Shakespeares eine bestimmte Textstelle in Hamlet beeinflusst hat (und damit, umgekehrt, die Bedeutung besagter Stelle in Hamlet = Shakespeares Trauer ist).

Es gab also gute Gründe, den Biografismus zu überwinden, um die jeweiligen Fachdisziplinen auf wissenschaftlich solide Füße zu stellen. Will man sich einem Kunstwerk wissenschaftlich nähern, ist man also tatsächlich gut daran beraten, Werk und Künstler*in (vorübergehend) zu trennen.

Im Folgenden ein Beispiel:

Eine musik-wissenschaftliche Analyse kann bestimmte Harmonieabfolgen einer Wagner-Oper untersuchen und sie in einen musikhistorischen Zusammenhang stellen, um Wagners Innovationskraft zu verdeutlichen. 

Eine biografische Analyse kann und sollte auf Wagners Anti-Semitismus hinweisen.

Daraus lassen sich zwei verschiedene Aussagen ableiten:

1. Wagners Musik ist innovativ, weil [musikwissenschaftliche Analyse einfügen].
2. Wagner war Antisemit, weil [historische Belege einfügen].

So weit, so unkompliziert. Die Frage ist: Wie verhalten sich die zwei Aussagen zueinander? Ist Wagners Musik weniger innovativ, weil er Antisemit war? Sicher nicht. Das wäre ja Biografismus, also eine Erklärung des Werks anhand der Biografie des Künstlers (mit dem ganzen Rattenschwanz an oben beschriebenen Problemen).

Ist Wagner weniger Antisemit, weil seine Musik so innovativ war? Ganz sicher auch nicht. Das wäre eine Erklärung der Künstler-Biografie aufgrund seines Werks. Künstler*innen sind aber eben auch mehr als nur werkschöpfende Wesen, die Biografie wäre also unvollständig und damit ungenügend.

Jenseits der Wissenschaft: Das Ding mit der Gesellschaft

Da Wissenschaft eben eigene Kategorien ausbildet, um Werke zu analysieren, ist es manchmal gut, dass sie für den Zeitraum ihrer Analysen von bestimmten biografischen Kriterien absieht. Jedoch: Wissenschaft operiert nicht im luftleeren Raum, sondern in einer lebenden und lebendigen Gesellschaft. Und in dieser spielt die Frage, ob der alterierte Vorhaltsakkord im Tristan-Vorspiel innovativ ist, eine enorm geringe Rolle; die Frage, ob Wagner Antisemit war hingegen schon. Denn von dieser zweiten Frage hängen die Antworten auf weitere gesellschaftliche Fragen ab (die die nüchtern operierende Wissenschaft, so sie nicht  ohnehin schon immer sozial- oder kulturwissenschaftlich orientiert ist, gezielt ignoriert). Ich meine Fragen wie:

  • Sollte Wagner der Antisemit staatlich subventioniert werden (denn das passiert ja mit jeder Opernaufführung)? 
  • Sollten Opernhäuser ihre Ressourcen so kanalisieren, dass eine kritische Rezeption der Opern für das breite Publikum möglich wird (also etwa durch Werkeinführungen, Hinweise in den Programmheften, Markierungen in den Inszenierungen usw.)? 
  • Lassen sich Wagners Werke vielleicht sogar einsetzen, um notwendige Kritik an Rassismus und Antisemitismus zu üben, obwohl diese Teil ihrer Geschichte sind?
  • Spielt die Rezeptionsgeschichte Wagners eine Rolle für die heutige Rezeption (m.a.W.: Was bedeutet es, dass die Nazis Wagner 60 Jahre nach dessen Tod verehrten?).
  • uvm.

Wenn die Wissenschaft also Werk und Künstler*in trennt, dann, weil es ihr hilft, das Werk nach den von ihr etablierten Kriterien zu analysieren und zu verstehen. Sie generiert damit Aussagen, die innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses korrekt sind, weil sie von außerwissenschaftlichen Kriterien absehen. Letztere spielen aber sehr wohl eine Rolle innerhalb gesellschaftlicher Diskurse.

Darf man jetzt... ?

“Darf man Wagner heute noch hören?” ist folglich eine berechtigte Frage, obwohl sie Werk und Künstler verbindet, da es eine gesellschaftliche Frage ist. 

Vielleicht ist die spannendere Frage jedoch: “Wie sollte man Wagner heute hören?”. Hier beginnt die Auseinandersetzung mit den Problemen, die während der Reibung von Künstler*in und Werk sichtbar werden. 

Man kann rote Linien ziehen und sagen: “Nein, Musik eines Antisemiten kommt für mich nicht in Frage.” Das ist moralischer Rigorismus, eine völlig akzeptable Position. Und das bringt mich zu der Frage, wieso ich in diesem Artikel Wagner als Beispiel gewählt habe: Einfach, weil ich vermute, dass wenige, die diese Zeilen auf einem Rollenspielblog lesen, mein Interesse an Wagners Musik teilen. Aber: Moralischer Rigorismus, der es ernst meint, muss dann eben auch auf andere Bereiche angewendet werden, etwa auf Harry Potter oder Buffy oder auf House of Cards usw.

Moralischer Rigorismus ist kein “pick and choose”. Entweder die roten Linien haben Gültigkeit sowohl für die Sachen, die man eh noch nie leiden konnte (Wagner) als auch für die, die man innig liebt (Harry Potter)... oder sie haben überhaupt keine Gültigkeit. 

Dann allerdings kann man seine Abneigung gegen bestimmte kulturelle Erzeugnisse nicht mehr ohne Weiteres mit Moral begründen (“Aber Wagner war doch Antisemit”). Auch das ist OK. Man kann Wagner ja auch ablehnen, weil man seine Musik furchtbar findet, oder Oper allgemein hasst, oder Stabreime nicht mag, oder nordische Göttersagen langweilig findet, oder die bei ihm einsetzende Atonalität als musikalischen Irrweg empfindet oder oder oder. 

Werk und Künstler*in zu trennen geht innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses zur Gewinnung bestimmter Erkenntnisse sehr gut. Sobald der Analyseraum der Wissenschaft verlassen wird (bei kritischer Wissenschaft sogar von dieser selbst), treten sowohl die Werke als auch deren Erzeuger*innen in Kontakt mit der Gesellschaft. Gesellschaftliche Diskurse sind selten eindeutig und sauber; der Staub der Geschichte klebt an ihnen und es wäre naiv zu glauben, man könne den Kontakt ohne Beschmutzung überstehen: Ich kann in Wagners Ring eine brillante Kritik der modernen Hochfinanz lesen. Aber eben eine, deren Schöpfer in antisemitischen Stereotypen gedacht hat. Ich kann mit meinen Kindern zu Michael Jacksons Popmusik tanzen. Aber eben dabei nicht einfach vergessen, dass sie von einem Künstler stammt, der Kinder sexuell missbraucht hat... 

Wer dafür plädiert, Werk und Künstler*in zu trennen, weil z.B. Harry Potter "eben für viele wunderschöne Dinge wie Freundschaft, Liebe und Gleichberechtigung" steht (Quelle Twitter), hat das mit der Trennung nicht ganz richtig verstanden. Es geht ja eben nicht um eine artifizielle Isolierung von Werk und Künstler*in zur Gewinnung von Erkenntnissen. Es geht hier darum, einer wichtigen Frage auszuweichen: Wie sollte man Harry Potter lesen, jetzt wo wir wissen, dass dessen Loblied auf die Freundschaft eines ist, das von einer Autorin stammt, die Trans-Menschen von dieser Freundschaft gezielt ausgenommen wissen möchte? Die Antworten auf diese Frage werden vielfältig sein. Das ist OK. Nur mit einer falsch verstandenen Werk/Künstler*in-Trennung zu argumentieren ist nicht OK. Denn mit einem Missverständnis zu argumentieren führt unausweichlich zu weiteren Missverständnissen.

2 Kommentare:

  1. Der Tristan-Akkord ist ein ganz entscheidender Beitrag zur Ausbildung des Avantgarde-Gedankens in der Kunst. Er kann kaum überschätzt werden. Wagner war künstlerisch ein Radikaler - einer der ersten, die im Folgenden für knapp 100 Jahre der Kunst ihren Stempel verliehen. Die Auswirkungen sind heute noch spürbar. Wer die Radikalität Wagners begriffen hat, hat auch eine Chance, die darauffolgende Reaktion - die postmoderne Reflexion und Polystilistik - zu verstehen. Hier liegt - sehr vereinfacht - ein Weg des Verständnisses an unsere künstlerische Gegenwart. Ich bin daher für Wagner-Aufführungen, auch für Subventionierungen.

    Natürlich war Wagner Antisemit. Es gibt viele Möglichkeiten, Wagners problematisches Weltbild in Aufführungen widerzuspiegeln (am verbreitetsten sicherlich als Inszenierung seiner Opern). Ich finde es wichtig, dass es diese Möglichkeiten gibt. Regisseure, die das tun, finden meine Zustimmung.

    Das Bewusstwerden von Innovation und Diskriminierung in derselben Persönlichkeit bietet einen weiteren wichtigen Einblick, denn die wenigsten Menschen verhalten sich widerspruchslos so, wie das eine politische Correctness gerne hätte. Bei Wagner lässt sich exemplarisch ein Riss begutachten, der sich auf die ein oder andere Weise in sehr vielen Bereichen wiederfindet - nur etwas weniger offensichtlich, vielleicht.

    Ich finde daher, bei der Beurteilung eines problematischen Künstlers darf dessen Schaffen schon ein wenig kritischer geprüft werden. Ich lehne es beispielsweise schon seit vielen Jahren ab, mich im Rollenspiel mit Lovecraft zu beschäftigen. Seine Misogynie, sein übersteigerter Puritanismus und sein Antisemitismus lassen mich genauer hinsehen. Das ist aber nicht das Wesentliche. Entscheidend ist für mich, dass ich sein Werk ziemlich schwach finde. Da gibt es einen gewaltigen Unterschied zu Wagner. Wenn mir das Schaffen keinen ausreichenden Gegenpol liefert, überwiegt der Ekel und ich wende mich ab.

    Und die Qualitäten, die ich bei Harry Potter erkennen kann, liegen doch recht deutlich im handwerklichen Bereich (Rowlings kann plotten, das wird man ihr kaum absprechen können). Ob das trotz ihrer problematischen Einstellung zu Trans-Menschen für eine Beschäftigung mit ihrem Schreiben reicht, muss wohl jeder selbst entscheiden. Ich verspüre dazu keine allzu große Lust (...und habe Harry Potter irgendwann im fünften Band verlassen). Allerdings steht es ja allen frei, Rowlings Loblied auf die Freundschaft auf Trans-Menschen auszuweiten.

    Cage hat (sinngemäß) gesagt: Das beste, was einem Künstler passieren kann, ist es, "benutzt" zu werden. Damit ist eine aktualisierte Aneignung gemeint. Für das Werk ist der Künstler bzw. die Künstlerin verantwortlich. Was wir damit anstellen, müssen wir aber selbst verantworten.

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    1. Es stimmt, dass der Artikel vor allem auf Produktions- und Werkebene abzielt, also auf Künstler*in und Kunst, weil eben hier das beschriebene Missverständnis am häufigsten auftritt (dass man die Trennung für ein allgemeingültiges Diktum hält, obwohl es nur Teil wissenschaftlicher Heuristik ist).
      Die Ebene, die der Artikel kaum beschreibt, ist die Rezeptionsebene. Darauf komme ich nur knapp im letzten Absatz zu sprechen. Daher sind Deine Ergänzungen gut und richtig. Danke!
      Das "Benutzen" von Kunst, wie Cage es postuliert, hat aber, gesellschaftlich betrachtet, eine Einschränkung (und ich bin sicher, Cage würde zustimmen): Kunst darf nicht benutzt werden, um gezielt das Leben anderer Menschen schlechter zu machen.

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