Das heute im Rahmen meiner kleinen #indieseptember-Reihe vorgestellte Spiel ist ein Spiel, von dem gestern auf der 3W6 Con zwei Runden angeboten wurden. Und ich hatte das Glück in einer dieser Runden mitzuwirken. Es hat uns alle enorm beeindruckt und wir haben beim Con-Dinner noch viel über das Erlebnis berichtet. Daher hat sich das Spiel seine Aufnahme in diese Reihe redlich verdient. Es geht um Kagematsu von Danielle Lewon, das in der "Kleinen Reihe" bei System Matters auf Deutsch erschienen ist. Das Spiel hat den Indie RPG Award "Game of the Year 2009" gewonnen.
Anstatt einer ausführlichen Regelvorstellung, hier der Spielbericht unserer Runde:
Vier bärtige Männer spielten vier liebreizende Dorffrauen, um einen ins Dorf gekommenen Ronin namens Kagematsu davon zu überzeugen, eine gefährliche und akute Bedrohung vom Dorf abzuwenden. Kagematsu wurde, wie es die Regeln verlangen, von einer weiblichen SL gepsielt (die übrigens zum allerersten Mal geleitet hatte: Gratulation, Eva: Du hast den Eindruck erweckt, als würdest Du seit 25 Jahren wöchentlich drei Runden leiten!). Schon am Vorabend der Con hatten wir diskutiert, ob das nur ein netter "Kniff" sei oder ein wesentlicher Bestandteil des Spiels und der Spielerfahrung. Nach unserer Runde kann ich sagen: Letzteres. Die bewusste Geschlechtervertauschung trägt wesentlich zum Spiel bei und ist mehr als ein bloßes Gimmick (was nicht heißen soll, dass es nicht auch in anderen Konstellationen spielbar ist - die Erfahrung wird vermutlich eine andere sein - solltet Ihr diesbezüglich Erfahrungen gemacht haben, würde ich mich freuen, in den Kommentaren davon zu lesen).
Danielle bedankt sich für den Gewinn des Indie Award 2010
Es gibt nur zwei Attribute, auf welche die vier Dorffrauen insgesamt 7 Punkte verteilen dürfen: Liebreiz und Unschuld. Mit diesen Werten nähern sie sich dem starken Fremdling und versuchen, nach und nach seine Zuneigung zu gewinnen, bis er schließlich bereit ist, die Konfrontation mit der Bedrohung auf sich zu nehmen. In der Worldbuilding-Phase zu Beginn einigten wir uns schnell auf "Small is beautiful": Die Bedrohung war eine Bande marodierender Minenarbeiter in den Gebirgen, die den Schwefelschutt in den Fluss entsorgten, der durch unser Dorf floss und das Wasser verunreinigte.
Beim Spielen einer Szene wählt die Dorffrau aus einer Liste aus, welche Art von Zuneigung sie gerne von Kagematsu erhalten möchte, ein Lächeln, einen Kuss, ein Kompliment usw., und würfelt dann mit einer Zahl W6, die ihrem Unschuld- oder Liebreizwert entspricht. Kagematsu würfelt verdeckt eine Anzahl Würfel, die der Schwierigkeit des Wunsches (Kuss, Berührung, Kompliment etc.) entspricht. Die Dorffrau muss höher würfeln, um Erfolg zu erhalten. Fallen drei Sechser, dann ist es ein Misserfolg und die Bedrohung kündigt sich und unterbricht die Szene. Das war in unserer Runde gleich beim ersten Wurf der Fall. Eine Dorffrau wollte dem Ronin ein Lächeln entlocken, traf ihn am schönen Baum beim Fluss, als gerade der Wind drehte und den schwefeligen Geruch vom Fluss her zu ihnen wehte, so dass jede Intimität zwischen Dorffrau und Ronin dahin war.
Im weiteren Verlauf gelangen uns die Würfe immer besser und wir sammelten fleißig Zuneigung bei Kagematsu. Unsere Dorffrauen sahen in dem Ronin zu Beginn nur Mittel zum Zweck. Aber im Verlauf der Zeit, die wir einzeln oder gemeinsam mit ihm verbrachten, wurden die Gefühle komplexer und verwickelter. Es kam zu ersten Szenen der Eifersucht zwischen den Dorffrauen, die sich alle in Kagematsu verliebten (wovon dieser schamlos Gebrauch machte). Gleichzeitig zeigten sich immer schlimmere Anzeichen der Bedrohung: Die Mutter einer Dorffrau erkrankte schwer, weil sie vom Flusswasser getrunken hatte und die Minenarbeiter zogen an den Dorfrand und sangen Spottlieder auf den Kaiser. Überhaupt gelang uns die Eskalation am Tisch ungeheuer gut: Die Bedrohung wurde zusehends größer, die Zuneigung zum Ronin intensiver und der tragische Schluss unausweichlicher...
Cover der italienischen Ausgabe von Kagematsu
Die emotionale Entwicklung unserer Dorffrauen (zunehmende Zuneigung) war entgegengesetzt zu unserem Spieler-Verhältnis zu Evas Kagematsu, den wir zu verachten begannen, weil er schamlos mit jeder ins Bett stieg und die Situation rücksichtslos zu seinem eigenen Vergnügen ausnutzte. Die Handlungen der Dorffrauen wurden dabei immer verzweifelter (ein geschickter Regelmechanismus, mit dem man durch eine Verzweiflungstat seine Würfelergebnisse verbessern kann: es wurde gedroht, bestochen, seine Männlichkeit und Ehre angezweifelt... einige Frauen zogen sich sogar nackt aus).
Am Ende wies er jedoch einmal die Avancen von Nigame, einer der Dorffrauen, zurück und es kam zu weiteren emotionalen Szenen. Als er schließlich in die finale Konfrontation zog, opferte sich Nigame auf, um Kagematsu zu retten, so dass dieser siegreich ins Dorf zurückkehrte und offenbarte, welche der Frauen seine Liebste sei (das war Kiko, meine Figur). Das ganze war hochdramatisch, wenngleich wir uns vorstellten, wie die glückliche Erwählte einige Monate später am Fluss saß - schwanger und neben den anderen Dorffrauen, die Kagematsu ebenfalls geschwängert hatte. Ein Happy End? Jedenfalls ein Ende, dass uns trotz besiegter Gefahr mit sehr gemischten Gefühlen zurückließ.
Bei der anschließenden Live-Aufnahme des 3W6-Podcast berichteten alle anwesenden Spieler*innen von ihren Erfahrungen am Spieltag und Kagematsu wurde mehrfach gelobt. Ein kleiner Con-Liebling, offenbar. Das Buch ist zudem ein kleines Kunstwerk. Die Illustrationen atemberaubend schön. Ich möchte es jedem zum Kauf empfehlen! Und zum Spielen. Wenige Regeln, ein einfacher Würfelmechanismus, eine hervorragende Dramaturgie und eine gelungene Idee zu den Geschlechterrollen am Tisch machen das Spiel zu einem Erlebnis. Danke an meine Dorffrauen David, Helmut (@Zikkurat_) und Walter: Ihr ward großartig. Und ein großer Dank an unseren Kagematsu Eva: Wir haben Dich geliebt und gehasst zugleich! ;)
Hier gibt es eine Diskussion über Kagematsu im Tanelorn.
Hier noch ein Actual Play, in das ich reingeschaut habe und das mir gefallen hat:
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