Sonntag, 2. September 2018

#indieseptember Tag 2: "No Boundaries" von Marc Hobbs (2017)

Ich bleibe dem Thema Literatur und Bücher treu, das ich mir für die erste Woche meiner Indie-Spiele-Serie ausgesucht habe. Das heutige Spiel hat drei Merkmale: Es ist kurz, es ist gratis, es ist tragikomisch. Es geht um No Boundaries von Marc Hobbs (@thehintguy), der vielen in der Indieszene von Downfall oder Eden bekannt sein dürfte (Spoiler Alert: dazu evtl. im Laufe des Monats mehr...). Das Spiel wurde von Less Than Three Games publiziert, dem Verlag von Marc und Caroline Hobbs, und ist dort zum freien Download verfügbar. Urprünglich war es eine Wettbewerbsidee, welche Marc vergaß fristgerecht einzureichen (sein Kommentar in den Regeln dazu: "Whoops."). Schade eigentlich, denn das Spiel hat mir so gut gefallen, dass es sicher gute Chancen gehabt hätte.


Es ist ein Spiel, dass mehr durch sein Setting besticht, als durch ausgefeilte Regelmechanismen. Es ist eine Liebeserklärung (oder Hassliebeserklärung) an mittelgroße Buchläden, die zu einer der vielen, inzwischen meist untergegangenen, Buchhandelsketten gehören. Man kommt nicht umhin, an Barnes & Noble zu denken, oder Ketten wie hierzulande Hugendubel. Als ich diese Buchtempel mit ihren integrierten Cafés Mitte der 1990er zum ersten Mal in Berlin entdeckte, war ich, bis dahin nur kleine Vorstadtbuchläden gewohnt, völlig überwältigt. Hier gab es wirklich alles. Und diese roten Sessel, in denen man Kaffee trinkend stundenlang sein Buch lesen konnte. Und das über fünf Etagen (wenn ich mich an den Laden am Tauentzien richtig erinnere - seit ein paar Jahren übrigens geschlossen).

In eben einem solchen Buchladen spielt No Boundaries. Die SCs sind die Angestellten in diesem Laden, dessen Name bezeichnenderweise "Boundaries" lautet und müssen sich an mehreren Fronten mit dem sterbenden Geschäftsmodell rumplagen und den vielen Rettungsversuchen der Herren in den grauen Nadelstreifenanzügen von Corporate, dem Konzern hinter dem Buchladen.

Das Spiel beginnt am 1. Januar, während die Angestellten warten, dass der Arbeitstag beginnt. Sie blicken zurück auf ihre Silvesternacht, stellen sich vor, wie die Leute von Corporate auf großen und teuren Parties das neue Jahr eingeläutet haben, und alle wissen: "it’s the end of an era, a change nobody wanted and no one is ready for. How will each of us get through this last chaotic year at the bookstore?" ... und dann beginnt der erste Arbeitstag.

Das Spiel wird in vier Runden gespielt (je eine pro Quartal), in der jede*r Spieler*in einmal einen Zug machen darf. Wer dran ist, wählt das Quartals-Event. So kann sich Boundaries etwa entscheiden, ein neues Produkt aufzunehmen, das vollkommen unbuchig ist. Marcs Beispiele: "cats, yarn, sex toys, VHS tapes, frozen meals." Man merkt schon, Boundaries ist eine Buchhandelskette, die verzweifelt alles versucht, das Ruder noch einmal rumzureißen. Natürlich werden auch Mitarbeiter*innen gekündigt und die Arbeit auf die verbleibenden Schultern verteilt. Oder Boundaries kooperiert mit einem (ebenfalls völlig unbuchigen) anderen Konzern (McDonald's? Carglass? Seitenbacher Müsli?). Oder Boundaries versucht, "die Kids" anzusprechen und gibt sich ein neues (natürlich völlig peinliches) Image? Man merkt schon: Das alles ist gleichermaßen tragisch wie komisch.

Hugendubel Königstraße | by library_mistress
Die aktiven Spieler*innen wählen auch einen Szenentyp. Wo spielt die zentrale Szene? Im Pausenraum? Im Lager? Während der Raucherpause? Im Kundengespräch? Die Szene endet, wenn die/der aktive Spieler*in es für richtig hält. Alle anderen erhalten noch Gelegenheit, auszuspielen, was sie für wichtig halten. Dann steht das nächste Quartal an.

Nach dem dritten Quartal senkt sich das drohende Damoklesschwert tiefer über die Köpfe der Boundaries-Angestellten. Ein kurzer Text wird vorgelesen, der die Bedeutung des letzten Quartals unterstreicht:
Corporate swore up and down they’d get the money to revive the business, but as September opens, bankruptcy is nearly certain. The suits plan to try one last desperate gamble before the rising tide of red ink swallows us all.
Die Spieler*innen spielen ihre letzte Szene. In der Weihnachtszeit. Vielleicht brummt das Geschäft ein letztes Mal? Vielleicht bleiben die Läden auch traurig leer? Vielleicht brennt der Weihnachtsbaum ab? Jedenfalls ist kurz vor Weihnachten Schluss.
By Thanksgiving everyone knows the score: Boundaries is closing, permanently. There’s a rush on the stock and the company’s market share plummets in a free fall. They’re shuttering branches left and right, and two days before Christmas, our bonus arrives: We’ll all be out of a job starting January 1st. So… what are you doing for New Year’s Eve?
Im Impressum dankt Marc allen früheren B&N-Kolleg*innen: "Special thanks to all my former coworkers at B&N for your inspirational drama." Man spürt, dass hier jemand schreibt, der seiner Zeit als B&N-Angestellter mit gemischten Gefühlen entgegenblickt. Verklärte Nostalgie hier; Erleichterung, dass es vorbei ist da. Ich teile dieses Gefühl sehr, daher hat mich No Boundaries sehr berührt. Der Spielmechanismus ist nicht sonderlich raffiniert und ich bezweifle, dass man es unendlich oft spielen wollen wird. Aber beim Wiederlesen habe ich sofort Lust bekommen (jaja, Déformation professionnelle, ich weiß), einmal Buchladenangestellte*r bei Boundaries (oder einer dt. Kette) zu sein. Vielleicht ein netter Con-OneShot?

Es gibt ein Actual Play von Scene Play, das ich noch nicht gehört habe das ich heute, 4.9., habe hören können. Die Gruppe ist eine gute No Boundaries-Belegschaft, eine ambitionierte Möchtegern-Schriftstellerin, ein lebensverdrossener 42-jähriger Barista und ein schwuler 17-Jähriger, der den Sohn des Barista datet (ohne dass der davon weiß). Man merkt sehr schnell die melancholischen Zwischentöne und es macht Spaß den drei Spieler*innen zuzuhören.
Das 5-seitige Regelwerk gibt es als pay what you want hier.
Marc Hobbs kann man hier auf Twitter folgen.

Also: #werspieltmit?

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