Mittwoch, 5. September 2018

#indieseptember Tag 5: "The Beast" von Aleksandra Sontowska und Kamil Węgrzynowicz

Gleich vorweg: Literarisch ist dieses beklemmende Rollenspiel, weil es den*die Spieler*in auffordert, ein Tagebuch zu schreiben. Und da wir als Rollenspieler*innen wissen, dass wir dabei eine Rolle spielen, es also nicht direkt unser Tagebuch ist, ist das nichts anderes, als die Aufforderung, Literatur zu produzieren (Fiktion, mit fiktiven Charakteren). Das mag ich an The Beast sehr. Dennoch: Ich spiele es nun schon seit einer guten Woche und habe beschlossen, es auf gar keinen Fall mit irgendwem zu teilen. Anfangs war das mein erklärtes Ziel und ich dachte, "Hey, ist doch nur eine Rolle, die ich da spiele, das kann ich doch gut veröffentlichen", aber es geriet dann doch so viel Persönliches mit hinein, dass es eine der intimsten Rollenspielerfahrungen seit langem war. Aber der Reihe nach.


The Beast ist ein Briefrollenspiel mit einer simplen Mechanik und einer simplen Prämisse. Wir haben eine Bestie bei uns zu Hause versteckt, mit der wir regelmäßig Sex haben, 21 Tage lang. Jeden Tag schreiben wir über unsere Erlebnisse einen Tagebucheintrag. Am ersten Tag füllen wir ein "Beastionnaire" aus, das uns hilft, der Bestie Leben einzuhauchen, wie riecht es, wie schmeckt es, wie sieht es aus, wie fühlt es sich an, wo verstecken wir es, was erregt uns an ihm, was stößt uns ab, welchen Geschlechts, denken wir, ist das Biest usw. Dann ziehen wir aus einem Stapel Karten jeden Tag eine, die uns eine Richtung für unseren Tagebucheintrag vorgibt: eine Frage, die uns plagt, ein Gefühl, das uns bedrückt, eine Begierde, die uns um den Schlaf oder Verstand oder beides bringt. Am letzten Tag ziehen wir eine Schlusskarte (Closure Card), befolgen die Anweisung auf dieser und haben dann die Wahl: "Hide or burn the diary."

Wie gesagt: An Tag 1 dachte ich, das Tagebuch hier im Blog zu veröffentlichen. Schon nach drei Tagen hatte ich meine Zweifel daran. Nun, nach mehr als einer Woche weiß ich, dass ich dieses Tagebuch ganz bestimmt niemandem zeigen werde. Wahrscheinlich ist es immer so für uns Rollenspieler*innen: Wenn wir eine Rolle spielen - und ist sie auch noch so fremdartig und verschieden von uns - es fließt doch immer gewollt oder ungewollt eine Menge unserer Persönlichkeit mit hinein. Das hat mir The Beast sehr deutlich vor Augen geführt.


Der richtig clevere Schachzug des Autor*innen-Teams ist die Aufforderung, zu Beginn des Spiels die Bestie zu definieren, nicht aber die eigene Rolle als Hauptperson. Das Regelwerk lässt es völlig offen, ob man "als man selbst" spielt oder sich eine Figur mit bestimmten guten und schlechten Eigenschaften ausdenkt (wie bei Rollenspielen meist der Fall). Ich habe versucht, eine solche Figur zu erschaffen, die nur wenig mit mir zu tun hat, die ein anderes Leben führt, die in einer anderen Stadt wohnt, die andere Ansichten vertritt usw. Ich habe ihn (ja, es war dann doch ein Mann) "Johann Weber" genannt und ihn täglich in die Garage geschickt, um mit dem Biest Sex zu haben. So konnte ich sicher sein, dass es Johann Webers Gelüste sind, nicht meine, die dort niedergeschrieben werden, seine Obsessionen und Leidenschaften, seine Ängste und Wünsche... und doch, Ihr ahnt es schon, ist der gute Johann Weber immer mehr ich selbst geworden. Das war eine unheimliche Erfahrung, die mich dazu gebracht hat, ebenso über meine Sexualität nachzudenken, wie über meine Haltung zum Rollenspiel.

Klar, der Briefmechanismus ist nicht neu. System Matters übersetzt beispielsweise gerade das sehr schöne Briefspiel Quill (pay what you want auf DriveThruRPG). Aber was The Beast damit macht ist schon sehr besonders. Das schreibt auch Jason Morningstar:
"The epis­to­lary for­mat isn’t com­pletely new, but the way fic­tion emerges — from the card prompts and from your dirty brain — def­i­nitely is." — Jason Morning­star (Quelle)
Es regt tatsächlich auf sehr interessante Weise unser "dirty brain" an. Auf dem Backstory-Podcast von Alex Roberts (@muscularpikachu) berichtet die Designerin von The Beast, Aleksandra Sontowska, dass zahlreiche Spieletester*innen ihre Tagebücher tatsächlich verbrannt haben (oder im Fall von Online-Tagebüchern offline genommen haben, wie etwa Caitlynn Belle), oft, weil die Ergebnisse zu intim oder zu verstörend oder zu "dirty" waren.

Beim Lesen der wenigen tatsächlich veröffentlichen Tagebücher verspürt man (oder "verspüre ich") nicht selten eine gewisse voyeuristische Lust. So antwortet beispielsweise der norwegische Rollenspieler und Medienwissenschaftler Kristian Bjørkelo auf eine Karte, die fragt, ob und wie man beim Sex mit der Bestie verhüte:
No. I couldn’t fathom what protection would work… The size of the Beast’s member… it would take what? An elephant’s intestines? And the strength of it ejaculate, it feels like I’m being bombarded by artillery. No… I don’t use any protection. There isn’t any protection. And why would I protect myself from this gift? (Quelle)
Die schiere Größe des Phallus, die Kristian (oder sein Charakter?) imaginiert, unterscheidet sich sehr von "meiner" bzw. Johann Webers Bestie. Aber warum: Vielleicht weil Johann und ich offensichtlich Sexualität und Schmerzen nicht zusammendenken können, so wie Kristians Charakter es tut: "I have sores. There’s puss. And they ache when I have a fever. No. They don’t ache. They throb. It isn’t painful really. It’s just a warm throbbing that matches my fever." (ibid.) Diese Intimitäten, der Reiz des halb gespielten, halb erlebten, diese Andersartigkeit (von mir? von anderen Spieler*innen? von der Bestie?) - all das macht The Beast zu einem bemerkenswerten Spiel.

Hätte fraglos seine Freude an The Beast gehabt: Sigmund Freud

Das Spiel lässt sich "hacken", bzw. modifizieren. Hier wird z.B. berichtet, wie jemand das Spiel aus der Perspektive eines Monster Hunters spielt. Man kann sich neue Bestien ausdenken, neue Hauptpersonen, letztlich auch neue Karten und Fragen. Bekannte Bestien oder Monster lassen sich einbauen (Dracula, Frankenstein, Mr Hyde). Man könnte am Tisch mit der Rollenspielrunde ausspielen, was passiert, wenn andere das Tagebuch finden. Oder man könnte es in bestehende Rollenspiele integrieren (Monsterhearts, Monster of the Week, Cthulhu, The Witcher RPG).

Die knappen Regeln und das Beastionnaire kann man hier gratis herunterladen. Herz des Spiels sind die Karten, die man auf DriveThruRPG erwerben kann, physisch und als Printout. Darum will ich hier auch nur eine einzige Karte als Beispiel zitieren, die ich heute morgen gezogen habe und deren Beantwortung mich ebenfalls ein wenig verstört hat:
How do you make the Beast orgasm? In what way is this dangerous to your health and life?
Wer Lust bekommen hat, sich Fragen wie dieser zu stellen und 21 Tage lang in Garage, Keller oder Dachboden Sex mit einer Bestie zu haben, der*dem empfehle ich dieses einfache aber raffinierte Indie-Spiel von  Aleksandra Sontowska und Kamil Węgrzynowicz, das aktuell auf Polnisch, Englisch und Italienisch verfügbar ist, aber sicherlich auch das Interesse eines dt.-sprachigen Verlages wecken wird.

Weitere Actual Plays und Erfahrungsberichte sind auf der Webseite der Entwickler*innen gelistet. Wenn Ihr selber Erfahrungen mit The Beast gemacht habt, schreibt sie in die Kommentare oder verlinkt Eure Berichte.

Da es ein Solo-Rollenspiel ist, beende ich diesen Beitrag heute ausnahmsweise nicht mit #werspieltmit.

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