Mittwoch, 12. September 2018

#indieseptember Tag 12: "Annalise" von Nathan D. Paoletta

Autor Nathan D. Paoletta ist der Community wahrscheinlich eher durch sein ungewöhnliches Rollenspiel World Wide Wrestling (WWWRPG) bekannt, das in letzter Zeit eine wachsende Fangemeinde begeistert (gemessen an den positiven Kritiken und den immer öfter angebotenen Online-Runden auf der Drachenzwinge oder dem Gauntlet). Nathan ist ein vielseitiger Spielentwickler. Denn neben Wrestling hat er auch ein Kriegsrollenspiel entwickelt, das sehr intensiv sein soll: Carry. A Game About War. Ferner ein Spiel über außerparlamentarische politische Partizipation, The Birth of the Resistance Age, ein sword-and-sorcery Spiel über Grabräuber, Masks of the Mummy Kings, und eben auch ein Horror-Spiel: Annalise (2010), das er selbst als "Gothic Horror" bezeichnet. Sein Spiel ist inspiriert von literarischen Werken wie Joseph Sheridan Le Fanus Carmilla (1872) oder Carl Jacobis Revelations in Black (1933). Aber auch, wie Nathan angibt, von I Am Legend (Richard Matheson, 1954) oder Pages from a Young Girl's Journal (Robert Aickman, 1975). 


Something is out there in the darkness, watching you. It wants you. Somehow, it's found you. You are repulsed and intrigued, attracted, and revolted. You struggle against it, perhaps without even realizing it. In some ways, this battle defines you. In the end, the darkness will change you -- but for better or for worse? (Annalise, S. 7)
In diesem Spiel spielt jede*r Spieler*in eine*n Protagonist*in in einer Vampirgeschicht. Alle Charaktere sind einem Vampir verfallen. Im Spiel kämpfen die Charaktere gegen diesen Einfluss an. Es ist also eine Vampirgeschichte, die nicht aus der Sicht der*s Vampirs*in erzählt wird, sondern aus der Perspektive ihrer*seiner Opfer, Diener und Feinde. Oder wie Nathan schreibt: "This is creating the story of Dracula by playing Van Helsing, Mina Harker, and Renfield. This is writing the story of Lost Boys by playing Sam, the Frog brothers, and the grandfather. You get the idea." (S. 7)


Annalise wird in vier Phasen gespielt: Charaktererkundung, Grundlegung, Konfrontation und Nachspiel (S. 13). Jede Phase ist in Szenen unterteilt, von denen jede einen oder mehr "Momente" enthält, Augenblicke also, die sich in jede beliebige Richtung entwickeln könnten (S. 37). Das Spiel ist spielleiterlos, bzw. es hat eine rotierende SL. Ähnlich wie bei Lovecraftesque übernehmen die Spieler*innen abwechselnd eine der drei Rollen: "active player, scene guide, and audience." (S. 15) Gewürfelt wird mit W6, und Spielmünzen (coins) dienen als Währung im Spiel. Die Charaktere haben zwei Kerneigenschaften (Vulnerability and Secret), eine Zahl kleinerer Eigenschaften (Satellite Traits genannt), die sich durch das Spielen der "Momente" generieren und einen Reservepool. Dazu kommt als ein zentraler Regelmechanismus die sog. Claims, d.h. Elemente der fiktionalen Welt, die sie im weitesten Sinne "besitzen" und deren Wiederkehr im Spiel sie durch diese Claims sichern (S. 17 und 22ff.). Ein solcher Claim kann vieles sein: Ein NSC, ein Requisit, ein Ort, ein visuelles Motiv, ein wiederholbares Ereignis oder eine Beziehung. Einsetzen kann man, was man vorher geclaimt hat einerseits als "Fluff", als Ausschmückung, andererseits zum Beeinflussen der Momente und ihrer Ergebnisse (S. 42). Wenn ein Claim in einer Szene sinnvoll ist, kann er eingesetzt werden, um z.B. das Würfelergebnis zu verbessern (ein bisschen wie ein Fate-Aspekt, allerdings müssen die Spieler*innen im Verlauf des Spiels die Dinge ihrer Narration erst aktiv "claimen", um sie später einsetzen zu können).

Und dann gibt es da noch die*den Vampir*in, gleichzeitig wichtigste*r und unwichtigste*r Charakter im Spiel. Wichtig, da es um die Beziehungen der SCs zu ihr*ihm geht; unwichtig, weil es nicht eigentlich um sie*ihn geht. In den ersten beiden Phasen (Charaktererkundung und Grundlegung) wird das unheimliche Wesen nur angedeutet. Erst die dritte Phase, Konfrontation, arbeitet langsam auf die Begegnung mit ihr*ihm hin. Die Phase beginnt mit einer Konsolidierung der Claims: Ungenutzte können aus dem Spiel genommen oder mit weniger Münzen versehen werden; wichtige können "hochgewertet" werden. Als hochdramatischer Moment können Eigenschaften in dieser Phase auf "flippen", in ihr Gegenteil verkehrt werden: Die Begegnung mit der*dem Vampir*in ist eine einschneidende Erfahrung und kann schwere Auswirkungen auf die Charaktere haben. Der Phase schließt sich die Nachspiel-Phase an (S. 61 ff.)

Der Band beginnt mit einem dicht beschriebenen und schön illustrierten "Tagebuch", das die unheimliche Stimmung einfängt. Im weiteren Verlauf nimmt die Zahl der Illustrationen leider ab. Dennoch sind die zahlreichen Spielbeispiele und Querverweise gut geeignet, um schnell in das Spiel einzuführen. Der Band endet mit zahlreichen Szenarien (guided play scenario), die Einsteiger*innen das Spiel erleichtern und eine Idee von der Stimmung vermitteln: The Mysterious Voyage of the Auspicious, Dracula Reloaded, The Wake of Zenas Quantum, Viva L.A. Revolution uvm.






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