Montag, 3. September 2018

#indieseptember Tag 3: Good Society: A Jane Austen RPG (von Storybrewers; 2018, in Entwicklung)

Für viele Literaturwissenschaftler*innen gibt es drei große Autor*innen: Homer, Shakespeare und Jane Austen. Was die drei gemeinsam haben? Über alle drei wissen wir nur sehr wenig (zu den ersten beiden siehe die Homerische Frage und die Shakespeare Urheberschaftsdebatte). Austen schrieb, soviel gilt als sicher, Zeit ihres Lebens rund 3.000 Briefe. Erhalten davon: 160. Warum? Nicht zuletzt, weil Austens ältere Schwester Cassandra im Jahr 1843 entschied, dass es eine gute Idee sei, die Briefe ihrer Schwester alle zu verbrennen. Was in diesen Briefen stand, weiß niemand. Vielleicht hätten sie uns ein komplexeres Bild von Jane Austen geboten, als das der happy spinster, die in ihrer Freizeit brillante Gesellschaftsromane und bitterböse Satiren schrieb. Aber ach: Wir werden es wahrscheinlich nie erfahren.

Wer allerdings Lust hat, sich ein Bild von Austens Welt, dem England der sog. Regency-Zeit, zu verschaffen, um sich dann ausmalen zu können, welchen Inhalts die Briefe einer jungen, unverheirateten Frau wohl gewesen sein mögen, der*dem sei das Indie-Spiel #03 ans Herz gelegt:

Good Society: A Jane Austen RPG. Das Spiel wird entwickelt von den beiden Storybrewers Vee Hendro (@Rocketeer_Vee) und Hayley Gordon(@storybrewers), die der Community vor allem durch Alas for the Awful Sea bekannt sein dürften (wenn nicht, könnt Ihr Hayley hier beim Spielen zusehen, mit Mathias und anderen Mitglieder der Gauntlet Community). Es ist aktuell (Stand: September 2018) noch in Entwicklung, aber wenn man es auf Kickstarter unterstützt hat oder dort die Pre-Order-Funktion nutzt, erhält man ein ziemlich gutes PDF mit Vorab-Regeln ("Quickstarter"), die sich schon sehr fertig und spielbar anfühlen.
Vee und Hayley stellen sich vor und beantworten Fragen

Good Society ist nicht im strengen Sinn SL-los, aber: "Unlike many traditional games, the Facilitator [a.k.a. the GM] in Good Society does not have unlimited narrative control. Instead, they share creative power with the players." (Quickstart S. 2). Das Spiel liegt also irgendwo zwischen einem SL-losen Spiel und einem mit "eingeschränktem" SL, der eher koordiniert und moderiert, als "meistert".

Bevor es aber losgeht, einigen sich die Beteiligten vorab auf die Eckpfeiler des Spiels, in dem sie die folgenden Fragen beantworten:

  • Welchen Ton sollte unsere Geschichte anschlagen?
  • Wie wichtig ist es uns, historisch akkurat zu spielen?
  • Welche Art von Geschlechtshierarchie wollen wir in unserem Spiel?
  • Wie viele Geheimnisse ("hidden information") werden wir im und für das Spiel verwenden?
  • Was wollen wir in unserem Spiel vermeiden?

Man kann also beispielsweise die Geschlechterhierarchien beibehalten, aber auch umkehren. Man kann gleichgeschlechtliche Liebe als etwas völlig Alltägliches in die Runde einführen oder es, wie Austen selbst, unter den Teppich kehren (naja, oder auch nicht, wie Steven Marcus in seiner bahnbrechenden Studie The Other Victorians (1966) für spätere Autor*innen behauptete). Alles ist möglich und niemand wird vom Spieltisch verwiesen, wenn er nicht weiß, wer Premierminister im Jahr 1816 war (es war Robert Jenkinson, 2. Earl of Liverpool, aber das musste ich auch erst googlen und ich habe mal ein Buch mit einem Kapitel über Jane Austen geschrieben...). Vorgegebene Playsets (Quickstarter, siehe Appendix) erleichtern die Auswahl der Art von Geschichte, z.B. Liebeskomödie, Farce oder Drama.

Die Spieler*innen übernehmen je eine Hauptfigur der zu spielenden Geschichte. Sie gestalten die Spielfigur aus mit den Parametern Rolle, Familienhintergrund, geheime Wünsche & Begierden und Beziehungen. Letztere sind ein besonders interessantes Feature von Good Society. Sie sind einerseits Nebenfiguren, die auch aktiv gespielt werden können, wenn die eigene Hauptfigur in einer bestimmten Szene gerade nicht aktiv ist. Andererseits gilt auch:
"Connections are supporting characters that hold tremendous influence over the lives, situations or hearts of the major character they are attached to. Characters may love their connections, or they may hate them, but their influence cannot be denied." (Quickstarter S. 8)
Diese Beziehungen können auch im laufenden Spiel noch hinzugefügt und erschaffen werden, je nachdem was der Plot gerade verlangt.



Ein spezieller Spielmechanismus sind die sog. "resolve tokens" (Entschlossenheitsspielsteine - was für ein schönes Wort!). Sie erlauben es den Spieler*innen und der SL ("Facilitator" genannt, also in etwa "Moderator" oder auch "Vermittler") narrative Details der Welt zu verändern oder Ereignisse zu Gunsten ihrer Charaktere zu drehen. Zusätzlich gibt es noch Monolog-Spielsteine (Quickstarter S. 13f.), denn Innere Monologe sind ein Merkmal des Romans im 19. Jahrhundert (streng genommen, ist es vor allem die sog. "erlebte Rede", die Austens Romane auszeichnet, der "style indirect libre" oder "free indirect discourse", aber das auszuführen wäre jetzt etwas theoretisch: innerer Monolog is just fine). Jederzeit im Spiel kann ein*e Spieler*in jemand anderem am Tisch einen solchen Spielstein geben, woraufhin die entsprechende Figur sofort ihre inneren Gedanken und Gefühle offenbaren muss (idealerweise in Form eines solchen Monologs).

Das Spiel selbst läuft in Phasen ab, einer Romankapitel-Phase, einer Klatsch-und-Tratsch-Phase, einer Briefphase, einer weiteren Romankapitel-Phase und schließlich einer erneuten Briefphase (S. 14). Nach jeder Romankapitel-Phase wird nach bestimmten Vorgaben die Reputation der Figur überprüft - ob sie nach oben, oder, wie so oft bei Austen, nach unten gegangen ist. Die Gesellschaft im Regency England war gnadenlos, unnachgiebig und unversöhnlich: ein Fehltritt konnte den gesellschaftlichen Tod bedeuten. In der Klatsch-und-Tratsch-Phase kann jede*r entweder ein Gerücht erschaffen oder verbreiten (S. 15). Gerüchte können, aber müssen sich natürlich nicht als wahr erweisen. Wie das halt so ist mit Gerüchten... Die Briefphase zollt dem populären Genre des Briefromans Respekt:
"In this phase, each person including the Facilitator may write up to two letters, either from the perspective of their major character, or a connection that they control." (S. 15)
Diese können Rückblenden enthalten, Gefühle offenbaren uvm. Nach der letzten Briefphase des Spiels gibt es dann den Epilog und die Spieler*innen können ihrem Roman einen Namen geben (Stolz und Vorurteil ist allerdings schon vergeben).

Es gibt im Appendix eine Reihe von Materialien, die nicht unbedingt benötigt werden, aber das Spiel u.U. erleichtern und abwechslungsreicher machen. Beziehungskarten, Geheimes-Verlangen-Karten, vorgefertigte Figuren (als SC oder NSC) wie z.B. "The Heir", "The Socialite", "The Dependent", "The Dowager", "The New Arrival" etc. Dieses Material wird bei Fertigstellung des Spiels auch käuflich zu erwerben sein, falls Ihr schön gestaltete Karten und ein liebevolles Artwork zu schätzen wisst.

Ist das Spiel nur für Austen-Fans (Janeites genannt)? Nein, aber es ist zumindest nichts für Spieler*innen, die gerne Orks verdreschen, Dungeons looten und auf Hochleveln Wert legen. Das Spiel kann einige interessante Konflikte erzeugen. Es kann auch ein Gesellschaftspanorama bleiben, dem nicht richtig ein Plot innewohnt (wie oft bei Rollenspielen, die an Filme oder Romane angelehnt sind - wir hatten beispielsweise beim Spieletesten von Noir World zusammen mit der 3W6-Podcast-Community ein ähnliches Erlebnis). Aber es macht sicher großen Spaß die fiesen und gleichsam feinen sozialen Attacken gegen unliebsame Gesellschaftsmitglieder auszuführen, dem Liebespaar trotz aller Unwägbarkeiten ihres Glücks die Daumen zu drücken, und den Parvenu und Hochstapler bloßzustellen.

Denn: Austen ist viel weniger Liebeskomödie, als man gemeinhin denkt. In erster Linie geht es bei ihr um eins: Geld, Geld, Geld. Wer hat es, wer nicht? Wer will es, wer bekommt es? Ist das gerecht oder nicht? Nehm ich Geld oder Liebe...? Oder wie der Dichter W.H. Auden einst über Austen schrieb:
You could not shock her more than she shocks me;
Beside her Joyce seems innocent as grass.
It makes me most uncomfortable to see
An English spinster of middle class
Describe the amorous effect of “brass”,
Reveal so frankly and with such sobriety
The economic basis of society.
(W.H. Auden, "A Letter to Lord Byron"
Diese und andere Fragen beantwortet Good Society offenbar sehr gut, wie einige Actual Plays zeigen. Meine Indie-Empfehlung #03!

#werspieltmit?
Edit 2.9.: Ich leite bzw. "facilitate" Mitte September eine Runde mit @heckmueller, @trotzflocke, @w6vsw12 und @zeitiger und berichte dann in diesem Blog von meinen Erfahrungen.
Edit 4.9.: Außerdem habe ich das große Glück, auf der Gauntlet Con 2018 im Oktober eine Runde unter der Leitung von Autorin Vee Hendro spielen zu dürfen. Ich freue mich sehr darauf.
Edit 6.9.: Eine zweite Runde Good Society, die ich auf der Gauntlet Con 2018 spielen darf, unter dem Titel "Triumphs and Tribulations", geleitet von Sabine V., mit Gerrit Reininghaus, Jen Overstreet und Gene Astadan.
Edit 10.9.: Ich habe ein weiteres Actual Play im She's a Super Geek-Podcast entdeckt. Es ist dreiteilig, sehr empfehlenswert, weil die Regeln gut erklärt werden, und es wird von Hayley geleitet: Folge 1, Folge 2 und Folge 3.



Actual Play mit den Autorinnen

A Manor of Speaking (mit Kostümen)

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