Dienstag, 11. September 2018

#indieseptember Tag 11: Ten Candles von Stephen Dewey

Jaja, gar nicht soo Indie, ich weiß. Aber hey: Was für ein Spiel! Ich habe es jetzt ein paar Mal gespielt, live und online, und es ist seit einem guten Jahr mein unangefochtenes Lieblingsrollenspiel. Wie elegant Regeln und Spielwelt verzahnt sind, wie geschickt ein einfaches Requisit eine spielrelevante Bedeutung erhält, wie schnell eine dichte und bedrückende Stimmung aufkommt, wie selbstverständlich und selbstständig das Spiel sein eigenes Pacing regelt - das ist bei Ten Candles von Stephen Dewey (@shiftyginger) wirklich bemerkenswert.


Stephen klassifiziert sein Spiel als "tragischen Horror", das sich inmitten einer sonnenlosen Apokalypse abspielt. Der Himmel ist plötzlich dunkel geworden, auch die Satelliten sind nicht mehr in Betrieb, Netzwerke sind zusammengebrochen, Stromausfälle, Versorgungsknappheit... "and now, They have come." Was "Sie" sind, weiß keiner so genau. Aber "Sie" bedeuten nichts Gutes. Warum ist das nun tragischer Horror? Schlicht, weil es in dem, was üblicherweise als survival horror bezeichnet wird, eine sehr kleine Chance gibt, dass die Held*innen überleben. In Ten Candles nicht. Richtig gelesen: Keine Überlebenden. Am Ende des Spielabends können alle ihre Charakterbögen zerreißen... nein, das stimmt nicht: das tun die Spieler*innen schon während des Abends. Genauer: Sie verbrennen sie. Und hier beginnen die genialen Regelmechanismen von Ten Candles.

Zunächst einmal ist Ten Candles ein Wettlauf gegen die Zeit (den sie Spieler*innen letztlich verlieren werden, doch die Hoffnung treibt sie an: das ist ja eben das Tragische). Es brennen am Spieltisch die zehn namensgebenden Kerzen in Form von Teelichtern. Nach und nach werden diese erlöschen. Sind alle zehn ausgegangen, ist das Spiel vorbei. Damit gibt es einen Echtzeit-Mechanismus im Spiel (insbesondere, wenn die SL mal wieder knauserig [oder fies] war und die billigen Teelichter aus dem Aldi besorgt hat, die nicht so lange brennen). Aber die Kerzen werden auch nach und nach ausgeblasen, wann immer die Aktion einer Spieler*innen-Figur misslingt.
Wie misslingen Aktionen? Nun, die Spieler*innen haben max. soviele Würfel zur Verfügung, wie Kerzen brennen, um etwas zu tun (irgendwas: eine Wand hochklettern, mit dem Flammenwerfer auf die Monster zielen, das zerstörte Funkgerät reparieren....). Die werden auf einmal gewürfelt. Eine einzige 6 genügt, um die Probe gelingen zu lassen. Aber: Jeder Würfel, der eine 1 zeigt, wird für die laufende Szene aus dem Spiel genommen, so dass die folgende Probe weniger Würfel zur Verfügung hat und eine größere Fehlerquote hat usw. Gibt es gar keine 6 im Pool, dann endet die Szene und eine Kerze wird ausgeblasen.

Stephen erklärt die Regeln seines Spiels

Diesen Mechanismus können die Charaktere durch ihre Eigenschaften einmalig beeinflussen. Jeder Charakter hat eine "Tugend", ein "Laster", einen "Hoffnungsmoment" und einen "Abgrundmoment" (virtue/vice/moment/brink). Diese werden zu Beginn kollaborativ erstellt und auf Karteikarten vermerkt, je eine pro Eigenschaft. Alle Spieler*innen dürfen die Karteikarten zu Beginn in beliebiger Reihenfolge anordnen (außer den "Abgrundmoment", der liegt immer unten). Im Spiel ist immer nur die oben liegende Karte aktiv. Wenn nun ein Wurf im Spiel misslingt und viele 1er zeigt, kann ein*e Spieler*in das, was auf der Karte steht in die Erzählung einbauen, um die 1er neu zu würfeln. Dafür muss die Karte verbrannt werden, indem man sie an einer Kerze entzündet.

Zwischen den Szenen bewegt sich die Geschichte vorwärts. In einem gemeinschaftlichen Erzählritual können so viele Spieler*innen reihum je eine Wahrheit erzählen, wie noch Kerzen brennen. Das kann alles sein, etwa "Und wir durchsuchen den Schuppen, wo wir endlich das langgesuchte Funkgerät finden" oder "Wir erreichen das Boot und atmen erleichtert auf, als der Motor tatsächlich anspringt". Die SL muss das akzeptieren, auch wenn sich die Spieler*innen oftmals in diesen Phasen dazu neigen, sich mittels der Wahrheiten "aufzurüsten". Keine Sorge: Es werden von mal zu mal weniger Kerzen und damit weniger Wahrheiten werden; der "zufällig" gefundene Raketenwerfer verhindert nicht das tragische Ende, im Gegenteil, er vergrößert nur die Hoffnung auf Rettung, was das Ende noch tragischer erscheinen lässt. Also, wenn die Spieler*innen meinen, sie müssten einen Raketenwerfer finden: OK. Nur die Sonne, die bleibt aus, das ist das Einzige, was die Spieler*innen nicht ändern können.

Ich habe Ten Candles mehrfach gespielt und es waren jedes Mal sehr intensive Spielerfahrungen. Das stimmungsvolle Requisit der verlöschenden Kerzen ist gekonnt in die Spielmechanismen eingebaut und eine Metapher für die alles umgebende Dunkelheit. Das Verbrennen der Karten symbolisiert, dass die Figuren immer mehr von sich aufopfern müssen, um noch zu überleben. Die rituelle Gruppenphase zwischen den Szenen schafft kurzzeitig neue Hoffnung (und neue Ressourcen). So schlicht, so schön. Nicht umsonst hat sich Ten Candles seit seinem Erscheinen 2015 zu einem absoluten Liebling der Indie-Szene entwickelt und viele Spieler*innen bekommen leuchtende Augen, wenn sie über das Spiel reden.

Das Spiel kann man über Sphärenmeister oder direkt bei Stephens Verlag Cavalry Games kaufen.

Stephens Arbeit kann man auf Patreon unterstützen.

Es gibt ein hörenswertes Interview mit Stephen im 3W6-Podcast (Okt. 2017) sowie eine eigene Podcastfolge zu Ten Candles (ebenfalls Okt. 17). Außerdem eine Spezialfolge zu Stephens neuestem Spiel Gather - Children of the Evertree (Juni 2018).

Ausführliches Interview mit Stephen

Actual Plays gibt es viele, da fällt es schwer, Gute auszusuchen (und es ist natürlich so, dass man auf den Videos am Ende nur noch Dunkelheit sieht...). Aber ich mochte diese hier sehr gerne:

Nerds and Stuff spielen das Szenario aus dem Regelwerk "The Last Boat"

Hyper RPG spielen Ten Candles (davon gibt es eine ganze Reihe)

Saving Throw mit Jackson Lanzing


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Reisender, hinterlasse einen Kommentar auf dem PhexBasar!