Sonntag, 8. September 2019

#indieseptember Tag 38: "Red Carnations on a Black Grave" von Catherine Ramen

Es ist eine gewisse Herausforderung, über ein Spiel zu schreiben, das noch gar nicht veröffentlicht ist. Es gibt also keine Erfahrungswerte und keine intensive Textanalyse in diesem Artikel. Stattdessen nehme ich die Spuren, die überall verteilt sind (die Infos von Catherine, die APs, die Kickstarter-Kampagne und auch das Interview, das ich mit Catherine geführt habe) und nutze diese, um dem Spiel Vorschusslorbeeren zu geben, die es ganz sicher verdient hat. Ich bin auf jeden Fall schon lange nicht mehr so gespannt auf ein Spiel gewesen, wie auf Red Carnations on a Black Grave (als Beweis für meine Vorfreue sei hier nur erwähnt, dass es der einzige Kickstarter ist, bei dem ich der erste Backer war; da habe ich 60 Sekunden vor Beginn alle paar Sekunden auf F5 geklickt...). 

Red Carnations ist laut Untertitel ein "story game of resistance", ein Erzählspiel über Widerstand. Historisch geht es um einen ganz speziellen Widerstand, den der Pariser Kommune gegen die anrückenden Regierungstruppen. Die Pariser Kommune existierte vom 18. März 1871 bis zum 28. Mai 1871, also gerade einmal 72 Tage. Seinen Titel erhält das Spiel von einem Gedicht von Louise Michel, einer Kommunardin, die auch als Figur im Spiel vorkommt. Gleich in der ersten Strophe ist die Rede von dem schwarzen Friedhof, dem "noir cimetière", auf dem die roten Nelken, "rouges oeillets", blühen: Rote Nelken auf einem schwarzen Grab (historisch: dem Grab von Théophile Ferré, der 1871 hingerichtet worden war und der in einer frühen Fassung des Spiels auch eine spielbare Figur war).

Karl Marx über die Pariser Kommune

Die Kommunardin Louise Michel (1894)
Von Félix Vallotton
(lizenzfrei)
Nur zwei Tage nach deren Ende schrieb Karl Marx seinen Artikel "Der Bürgerkrieg in Frankreich", in dem er die Tage der Kommune als einen Konflikt von "nationaler Pflicht und Klasseninteresse" darstellt: Die konservative Zentralregierung (die zeitweise gezwungen war, ihren Sitz von Paris nach Versailles zu verlegen) sah es als ihre nationale Pflicht, Frankreich vor der preußischen Armee zu schützen. Dafür der sich bewaffnenden Arbeiterklasse Zugeständnisse zu machen wäre hingegen ein Verrat an den eigenen Klasseninteressen gewesen. Daher, so Marx weiter, "zauderte die Regierung der nationalen Verteidigung keinen Augenblick, sie verwandelte sich in eine Regierung des nationalen Verrats." 

Wie so oft bei Marx wechseln sich Passagen sachlicher Analyse der politischen Verhältnisse ab mit polemischen Passagen, in denen Marx anklagend die Schuldigen der Misere benennt. Zitiert wird häufiger der Polemiker Marx, der über das Ende der Pariser Kommune schreibt: 
Das heitere Arbeiter-Paris der Kommune verwandelt sich plötzlich, unter den Händen der Bluthunde der „Ordnung“, in ein Pandämonium. Und was beweist diese ungeheure Verwandlung dem Bourgeoisverstand aller Länder? Nichts, als dass die Kommune sich gegen die Zivilisation verschworen hat! Das Pariser Volk opfert sich begeistert für die Kommune; die Zahl seiner Toten ist unerreicht in irgendeiner früheren Schlacht. Was beweist das? Nichts, als dass die Kommune nicht des Volks eigne Regierung, sondern die Gewalthandlung einer Handvoll Verbrecher war! Die Weiber von Paris geben freudig ihr Leben hin, an den Barrikaden wie auf dem Richtplatz. Was beweist das? Nichts, als dass der Dämon der Kommune sie in Megären und Hekaten verwandelt hat!
Für Marx ist der Konflikt zwischen dem Innen (der Kommune) und dem Außen (der bourgeoisen Kräfte) zentral. Das vorliegende Spiel Red Carnations kann diese Konflikte ebenfalls abbilden, befasst sich aber in erster Linie mit den Konflikten innerhalb der Kommune. 

Red Carnations on a Black Grave: Art und Ton des Spiels

Uniformen der Kommunarden
(lizenzfreies Bild)
Historische Akkuratesse ist nur für die Rahmenhandlung geboten: Alle Spieler*innen stelle jeweils zwei Charaktere dar, die zur Zeit der Pariser Kommune in Montmartre leben, dem damaligen Arbeiterklassenbezirk von Paris. Am Ende der 72 Tage wird Paris von der Französischen Armee angegriffen und eingenommen und ein Großteil der Kommunarden hingerichtet werden. Was jedoch in der Zeit dazwischen geschieht, das liegt ganz in den Händen der Spieler*innen. Ziel des Spiels ist es, genau das herauszufinden.

Der Ton des Spiels ist ernsthaft und zuweilen auch tragisch. Denn jede*r am Tisch weiß, dass am Ende der Sitzung auch die Pariser Kommune zu einem (blutigen) Ende kommen wird. Viele liebgewonnene Charaktere werden sterben. Wobei überleben auch nicht unbedingt eine Gnade sein muss. Denn die überlebenden Charaktere müssen am Ende des Spiels eine schwere Entscheidung treffen: Bleiben sie im Widerstand und riskieren damit ihr Leben, kooperieren sie mit der französischen Regierung, um das Strafmaß zu verringern, oder suchen sie ihr Heil in der Flucht. Ganz gleich, wie sie sich entscheiden: Ein Happy End gibt es in Red Carnations on a Black Grave nicht.

Doch gleichzeitig war die Zeit der Kommune auch eine Zeit der Freude und des Genusses einer neugewonnenen Freiheit. Teile des Spiels werden sich also auch darum drehen, diese neue Freiheit zu erkunden und erleben. Da Freiheit nicht mit einem Handbuch geliefert wird, werden die Charaktere dabei auch Fehler machen und versuchen, deren Folgen zu verarbeiten. 

Red Carnations on a Black Grave: Regeln

Das Spiel ist ein SL-loses, kartenbasiertes, freies Rollenspiel (frei im Sinne von "freeform", also wenig durch Regeln geleitet). Catherine nennt als Inspirationsquellen die Spiele Montsegur: 1244 (das auch von Ulisses in seiner kurzlebigen Reihe Narrativa ins Deutsche übersetzt worden ist) und Witch: the Road to Lindisfarne, über das ich bereits im vergangenen Jahr berichtete und das ich sehr gerne mag und es auch auf der diesjährigen 3W6 Con leiten werde (mit der dt.-sprachigen Übersetzung, die mir ScarSacul freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat).

Wie erwähnt, stellt jede*r Spieler*in zwei Figuren dar, die in der Kommune leben. Die Figuren werden aus bestehenden ausgewählt, es werden also keine Charaktererschaffungsregeln benötigt. Die vorgefertigten Figuren (teils historische Persönlichkeiten, teils fiktive Charaktere) sind untereinander bereits verbunden. Jean Guy ist zum Beispiel ein Soldat und Metzgereigehilfe, der mit Josephine verheiratet ist, die wiederum eine Wäscherin ist und im örtlichen Krankenhaus aushilft, die von Dominique betrieben wird usw. Die Stretchgoals im Kickstarter haben dem Spiel weitere Charaktere hinzugefügt, darunter namhafte historische Persöblichkeiten wie Elisabeth Dmitrieff (deren Leben in dem Comicband Auf die Barrikaden! erzählt wird), Gustave Courbet oder Victor und Anna Jaclard.

Das Spiel läuft in Szenen und Runden ab. Es gibt drei Runden, von denen jede mind. eine Szene pro Spieler*in enthält (so kennt man es aus Spielen wie z.B. Dæmon of the Forest). In jeder Szene hat ein*e Spieler*in das Erzählrecht, um die Szene zu gestalten (setting the scene). Diese*r Spieler*in darf also das Wann und Wo und Wer der Szene bestimmen und hat auch im Laufe der Szene die Hoheit über die Erzählung.

Das Spiel hat zudem 80 Spielkarten, von denen zu Beginn jede*r eine zieht. Darauf steht eine Frage, die man nun jemand anderem am Tisch stellt. Zum Beispiel: "Welche Geschichte erzählst Du den Leuten über Deinen Vater und weshalb schämst Du Dich für die Wahrheit über ihn?" Oder: "Wer ist Dein*e beste*r Kund*in und wieso bittet sie*er Dich um mehr Geld?" Oder: "Wer war ein Informant für die Polizei vor Beginn der Kommune?" Oder: "Ein Charakter ist Dein Vater. Wer? Und weißt Du davon?" Oder: "Nenne einen Charakter in den einer Deiner Charaktere verliebt ist und frage dessen Spieler*in, ob der geliebte Charakter die Liebe erwidert!" usw. Die Antworten schaffen schnell Konflikte -- persönliche wie politische -- die dann im Spiel ausgespielt werden können.

Am Ende der dritten Runde geschieht das Unausweichliche und die französischen Truppen erobern Paris und töten in Montmartre zwischen 10.000 und 30.000 Menschen. Nicht alle dieser Opfer bekommen einen Prozess. Viele werden an Ort und Stelle niedergemetzelt und erschossen wie räudige Hunde. Viele werden in die Kolonien deportiert. Die überlebenden Charaktere entscheiden nun über ihr Schicksal: Fluchtversuch, Kooperation mit der französischen Regierung oder ein Einstehen (und Sterben) für die gerechte Sache. Danach werden wieder Karten gezogen, denn nicht unbedingt erhält ein*e Kommunard*in das Ende, was sie*er sich gewünscht hat. Manchmal ist das Leben grausam... und ein Fluchtversuch kann zum Beispiel in einer Deportation oder einer Hinrichtung enden. Keine Frage: Am Ende blühen rote Nelken auf einem schwarzen Grab.

Actual Plays und weiterführendes Material

Es gibt eine Zahl von sehr hörenswerten APs in Podcastform. Darunter auf James D'Amatos OneShot Podcast (Folge 1, Folge 2, Folge 3) sowie bei She's a Super Geek (ebenfalls in drei Teilen).




Interviews mit Spieleentwicklerin Catherine Ramen gibt es u.a. auf Alex Roberts' Backstory-Podcast sowie im Video-Podcast Hijos del Rol (s. nachfolgendes Video).
 
Interview mit Catherine Ramen bei Hijos Del Rol

Es gibt einen sehr schönen deutschsprachigen Bericht über das Spiel auf pnpnews.de von Tony.

Zur Geschichte der Pariser Kommune gibt es zahllose Bücher. Wer sich auf unterhaltsame Weise dem Thema nähern möchte, dem seien die beiden Graphic Novels Auf die Barrikaden! von Wilfried Lupano und Anthony Jean sowie Die Macht des Volkes: Die Kanonen des 18. März von Jacques Tardi (nach dem Roman Le Cri du peuple von Jean Vautrin) empfohlen, die auch beide in dt.-sprachiger Übersetzung vorliegen. Eine weitere Graphic Novel, die Catherine als Inspiration gedient hat, ist The Red Virgin and the Vision of Utopia von Mary M. Talbot und ihrem Ehemann Bryan Talbot.

Auch zu empfehlen ist der Revolutions-Podcast des Politologen Mike Duncan (der auch das Vorwort zu Red Carnations schreiben wird) und dessen Folgen zur Pariser Kommune.

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