Mittwoch, 4. September 2019

#indieseptember Tag 34: "Libreté" von Vivien Féasson (2017)

Mein Rollenspieljahr 2019 startete mit einer Sitzung Libreté, ein PbtA-Spiel des französischen Entwicklers Vivien Féasson (@Mangelune) aus dem Jahr 2017 (es war zuvor, im Winter 2016 mit knapp 8.000 EUR auf ulule, einer Art Kickstarter, finanziert worden). 
Vivien war so freundlich, es auf Englisch zu leiten; für: 
Das war ein schöner und würdiger Start in das Rollenspieljahr und ich habe mir kurz darauf die Regeln gekauft und mit meinem miserablen Schulfranzösisch so nach und nach durchgelesen.

Die Welt von Libreté

Schließt die Augen. Schließt die Augen und träumt, träumt von dem Kind, das Ihr einst gewesen seid. Es ist immer noch da, ein Teil davon, es kommt jedes Mal zum Vorschein, wenn man Euch zurückweist, wenn die Welt Euch erdrückt, wenn Ihr machtlos seid und das einzige, was Ihr gerne tun würdet, das Anschmiegen an jemandes Arme ist. (Teil des Eröffnungsrituals, "Fermez les yeux", bei Libreté, meine [holprige] Übersetzung; S. 29)
Das Spiel handelt von Kindern in einer seltsamen Welt, in der der Regen nie aufhört und in der die Sirenen, grausame Monster, nach den Leben der Kinder hungern. Diese Sirenen werden aus dem Wasser, den Pfützen, Seen, dem Regen geboren. Es gibt die Feuchten Lande (Les Terres Humides) und es gibt die labyrinthhafte Stadt, in welcher die überlebenden Kinder die erwachsenenlose Gemeinschaft "Libreté" gegründet haben, auf den Überresten der Erwachsenenwelt. (In unserer Testrunde lebten wir in einem alten Renaissance-Schloss, das dem Palazzo Vecchio mit seinem eindrucksvollen Saal der Fünfhundert nachempfunden war). Der Ton ist entsprechend düster, das Märchenhafte (Kinder müssen ohne Erwachsene Abenteuer bestehen) kippt schnell ins Unheimliche ab (durchaus im Freud'schen Sinne des Begriffs; Freud bezeichnete bekanntlich das "Unheimliche [als] Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat", siehe hier, letzter Absatz vor Abschnitt III). Die Kinder werden hier keineswegs sentimentalisiert, sie sind alles andere als unschuldige Opfer... Am besten man zieht vor Spielbeginn klare Lines and Veils und nutzt Sicherheitsmechanismen!

Die Welt basiert auf dem früheren Spiel von Vivien, Perdus sous la pluie (auch in englischer Übersetzung als Lost in the Rain erhältlich, über das es hier eine sehr gute englischsprachige Rezension und hier einen ausgezeichneten dt.-sprachigen Spielbericht von Julian gibt). Ich habe dieses Spiel vor zwei Tagen mit Julian (@hyadestroy) und Gerrit (@greininghaus) gespielt. Das war klares play to lose. Von uns drei Kindern ist nur eines wieder zu seinen Eltern zurückgekehrt, die anderen beiden waren perdus sous la pluie. Die nahtlose Kapitelstruktur (man erzählt eine fortlaufende Geschichte ohne Handlungs- und Ortssprünge) hat zur dichten und bedrückenden Atmosphäre beigetragen. Die Erzählung in der 1. Person (der fokalen Figur) und in der 3. Person (die anderen, nicht-fokalen Spielfiguren) hat ein wenig Zeit gebraucht und wir haben oft Fehler gemacht. Es hat aber schließlich sehr zur Stimmung beigetragen und uns sehr gefallen. Zudem war dadurch klar, wo das Erzählrecht lag und um wen es in der Szene geht. Die (oft harten) Perspektivwechsel haben mehr getan, als es ein harter Szenenschnitt (neue Szene: neuer Ort) hätte tun können.  

Wer sich nicht durch die französische Fassung arbeiten möchte, kann auch das kostenlose Libreté Demo Kit auf Englisch benutzen. Außerdem teilte Vivien mir mit, dass in den kommenden Wochen ein Kickstarter für eine englische Übersetzung von Libreté starten wird (vielleicht noch im September)!

Zudem hat Vivien das Spiel in der Zwischenzeit ausgebaut und es existieren zum aktuellen Zeitpunkt (September 2019) zwei Erweiterungen und eine dritte ist vorigen Monat erfolgreich finanziert worden. Die beiden ersten Erweiterungen heißen La Forteresse des nuées  ("Die Wolkenfestung") und das wunderschön betitelte Fleurs du Mall (nicht, wie bei Baudelaire, die Blumen des Bösen, sondern die "Blumen der Mall"; das Wortspiel funktioniert leider nur auf Französisch gut, aber irgendwie sind Malls ja auch das steingewordene Böse...). Die dritte, im Erscheinen begriffene, heißt De Bile et d’Acier ("Von Galle und Stahl") und erzählt, wie die Sirenen, von Galle genährt, in unsere Welt eindringen und zu unvorstellbarer Größe anwachsen, bis sie nur noch mit riesigen Mechs bekämpft werden können, die, um dem Thema treu zu bleiben, ausschließlich von Kindern gesteuert werden können...

Die Regeln von Libreté

Gewürfelt wird in PbtA-Manier mit 2W6 (allerdings ohne stats), wobei die Ergebnisstufen geringfügig von den gewohnten PbtA-Stufen abweichen: 
  • 7- = Misserfolg
  • 8-10 = ein perfekter Erfolg 
  • 11+ = ein exzessiver Erfolg, bei dem man ein wenig zu weit geht
Ebenfalls in PbtA-Tradition steht die Umbenennung der SL-Rolle, die hier "Der Gegner" (l’Aversaire) heißt. Ferner gibt es, wie in PbtA üblich, eine Reihe von Spielbüchern, Playbooks oder fiches d’archétypes, aus der man auswählen kann. In der Grundversion von Libreté sind das

  1. Opfer (la victime)
  2. Anführer*in (le chef)
  3. Seltsame*r (le bizarre)
  4. Schläger*in (la brute)
  5. Prinz/Prinzessin (la princesse)
  6. Mutter (la maman)
  7. Einzelgänger*in (le solitaire)
  8. Winzling*in (le p’tit bout)

(In der eingangs erwähnten Runde, spielte Markus den Schläger, Julian entschied sich für den Winzling, eine Art Hofnarren, Julien für den Einzelgänger und ich mich für die Prinzessin. Das war eine sehr schön und intensive Runde, die mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.) Alle diese Figuren haben spezifische Spielzüge ("Klassenspielzüge" in bekannter PbtA-Terminologie). Prinz*essinnen können verführen, Schläger*innen schüchtern ein, Einzelgänger*innen können nützliche Dinge aufspüren, Winzling*innen können sich praktisch unsichtbar machen usw.

Eine besondere regelmechanische Bedeutung erhält die Schwarze Galle (La bile noire), die Vivien im Regelbuch als "eine der Hauptregeln des Spiels" bezeichnet ("une des règles majeures du jeu", S. 15). Diese Galle nimmt sich ein*e Spieler*in (selbstständig und ohne SL-Absprache!) in einer für den Charakter anstrengenden, stressigen, schwierigen Situation. Die Verantwortung dafür liegt bei den Spielenden selbst. Man sagt also beispielsweise: "Dass ich mich hier unten im Keller verstecke, während ich die Stimmen der Sirenen näherkommen höre, das verursacht Stress. Ich nehme einen Punkt Schwarze Galle." Die jeweiligen Spielbücher geben zudem Hinweise, wann ein Charakter solche Steine nehmen sollte; der Schläger z.B., wenn er nicht stark genug ist oder man sich über ihn lustig macht. 

Mechanisch lassen sich bis zu 3 dieser Gallenpunkte auf Würfelwürfe einsetzen, um die Chancen zu verbessern (+1 je Gallenpunkt; ich widerstehe der Versuchung, sie "Gallensteine" zu nennen). Man muss sie allerdings vor dem Würfelwurf einsetzen, so dass gilt: Wenn man Steine einsetzt, steigt die Erfolgswahrscheinlichkeit; setzt man hingegen zu viele Steine ein, riskiert man einen exzessiven Erfolg (11+), der durchaus ungewollte Konsequenzen haben kann.

Auch das Horten der Gallenpunkte birgt Risiken. Hat man 5 Punkte, beginnt das Kind erkennbar unruhig zu werden, schlecht zu schlafen, nervöse Ticks zu entwickeln (S. 40)... Auf diese Weise kann es  auch passieren, dass die 5+ Gallenpunkte in einer anstrengenden Situtation "explodieren". Die SL wird dann eine eher unangenehme und klar unerwünschte Handlung für den Charakter bestimmen, der unter den Einfluss der schwarzen Galle geraten ist (S. 65). Die Spieler*innen müssen dann für den Charakter eine Probe mit 3 Gallenpunkten ablegen. Ist das Resultat ≤ 7, "bricht" (frz. craquer) der Charakter nicht. Er behält sowohl die schwarze Galle als auch die Kontrolle über seine Gefühle und sein Verhalten. Bei einer 8-10 beginnt die schwarze Galle den Körper des Charakters zu infizieren und er erleidet Konsequenzen. Bei einer 11+ greift die schwarze Galle den Organismus des Kindes auf aggressive Weise an und es wird schwer werden, die Kontrolle zu behalten (S. 66). Die schwarze Galle ist also ein zweischneidiges Schwert, das den Kindern in kleinen Dosen hilft, ihnen in großen Dosen hingegen sehr gefährlich werden kann. Durch besonders kindliches Verhalten (S. 41f.) lässt sich die Galle jedoch auch wieder abbauen, so dass die Kinder bemüht sein werden, zwischen den anstrengenden Szenen immer wieder zu spielen, zu lachen, zu singen, zu tanzen... trotz des endlosen Regens und des Geheuls der Sirenen.

Es gibt zudem ein Vor- und Nachteilssystem (S. 43). Überwiegen in einer Szene die Vorteile handelt es sich um eine Situation der Stärke, was +1 gibt. Andersrum handelt es sich um eine Situation der Schwäche, der Modifikator wird -1. Es ist situationsgebunden und wird entsprechend je Szene neu verhandelt. Eine regennasse Wand ohne Ausrüstung hochzuklettern wäre also bspw. ein Nachteil. Wenn der Charakter aber entsprechende Vorteile hat (guter Kletterer, z.B.; oder Hilfestellung von anderen) könnte er dennoch u.U. in eine Vorteilssituation kommen. Bei Vorteilen kann der Bonus nach dem Wurf hinzugefügt werden (oder eben auch nicht, wenn man einen exzessiven Erfolg vermeiden möchte).

Fünf Wunden bedeuten den Tod. Kämpfe und Verletzungen sind also schnell tödlich in Libreté. Das mag u.U. mit mancher Lines & Veils-Regelung kollidieren, da "Gewalt gegen Kinder" in der Regel von allen Spieler*innen auf diese Liste gesetzt wird. Hier gilt es, behutsam miteinander umzugehen, um einen gangbaren Weg durch die Gefahren der Welt zu finden.

Gauntlet Con 2017

Gauntlet Con 2018 (dieses Setting leitete Vivien auch für uns in o.g. Playtest im Januar 2019)

Fazit

Mein Französisch ist gerade gut genug, um das Regelwerk zu lesen und zu verstehen; nicht aber gut genug, um zu bewerten, wie gut es geschrieben ist. Aufgefallen ist mir allerdings, dass die Sätze manchmal enumerativ sind. Z.B.: "Un lien affectif, un sentiment de rage, une prise de risque ne constituent pas de bons avantages." (S. 43) Oder: "Crachins, orages, pluies, tempêtes s’y enchaînent au-dessus de la Ville abandonnée, aussi immense que déserte." (S. 15) Vielleicht fand ich es nur etwas anstrengend, diese vielgliedrigen Aufzählungssätze zu lesen, weil mein Französisch so schlecht ist und es bedeutete, dass ich mehr im Wörterbuch nachzuschlagen hatte... ;)  Aber meistens bevorzuge ich es, wenn Autor*innen das eine treffende Wort finden (und in der französischen Tradition ist dieses perfekte Wort unter dem Flaubert'schen Dogma "le mot juste" verankert). Viel mehr kann ich stilistisch und sprachlich nicht sagen. 

Die Illustrationen sind sehr schön, allerdings auch spärlich gesäht. Die 200 Seiten Regelwerk enthalten nur sechs größere Innenillustrationen plus eine Handvoll kleinerer Bildchen. Das ist schade, weil die Illustrationen gut helfen, die Stimmung einzufangen: der Regen, der auf eine zerstörte Welt niedergeht (S. 8), ein ängstlicher Junge, der sich vor den Sirenen versteckt (S. 112) oder ein Tribunal der Kinder rund um einen Kinderkönig (S. 39). 

Libreté ist ein schönes Spiel, das sehr stark von seiner Stimmung lebt, der Hoffnungslosigkeit und Angst, aber auch von dem Willen der Kinder, zu überleben. Es regnet ständig, es ist nass und düster und das Heulen der Sirenen lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Die Mechanik ist sehr geradliniges PbtA, das geringfügig modifiziert (z.B. Ergebnisstufen, s.o.) und leicht ergänzt wurde (Schwarze Galle-Mechanik). Man wird sich als PbtA-Kenner*in also schnell zurechtfinden. Der Spieltest hat mir (und den anderen, glaube ich, auch) sehr gefallen. Es ist ein Spiel, das ich gerne in der Kampagne austesten und bei dem ich auch die Erweiterungen einbeziehen möchte. Vielleicht schaffe ich es ja, eine Art dt.-sprachiges Cheat Sheet zu erstellen und ein paar Freund*innen mit nach Libreté zu bringen... packt die Regenschirme ein! 
Lost in the Rain (lässt sich auch an einem sonnigen Sonntagmorgen gut lesen)

Weiterführende Links

Die oben verlinkten YouTube-Videos enthalten eine Reihe von Actual Plays, zwei davon in englischer Sprache, die im Rahmen der Gauntlet Con 2017 und 2018 entstanden sind. In deutscher Sprache gibt es, meines Wissens, keine APs, aber das können wir ja bald ändern! ;) 

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