Dienstag, 10. September 2019

#indieseptember Tag 40: "Migrant Stories" von Nell Raban

Nell Rabans (@nell_do_wellMigrant Stories konnte ich im November 2018 zusammen mit Harald (@heckmueller) und Lena (@Catrinity) spielen, geleitet von Tim (@nurdertim). Es ist aktuell nur in einer Playtest-Version verfügbar, die aber schon erstaunlich spielbar und fertig wirkt. Migrant Stories ist gemäß seines Untertitels "A Roleplaying Game About Being Different in a Different Place". Das ist ein schweres Thema. Aus diesem Grund beginne ich meinen Artikel und Spielbericht mit einem Exkurs zum Thema Möglichkeiten der Erfahrung von Andersartigkeit (sog. Alteritätserfahrung) im Rollenspiel.

Der elevator pitch für das Spiel ist, dass es ein Werkzeug sei ("a creative tool"), um gemeinsam realistische Geschichten aus der Perspektive minoritärer Personen und Gruppen zu erzählen: "You’ll tell the story of newly or not-so-newly arrived immigrants in a curious, Western, Industrial civilization, probably around the turn of the twentieth century, and explore the obstacles they face in pursuit of glory, profit or redemption." (S. 3)

Try Walking in My Shoes: Migrationserfahrung und messy learning

In seiner Einleitung betont Migrant Stories, dass im Spiel die emotionale, nicht die historische Wahrheit von Migrationserfahrung erzählt werden soll. Es geht also nicht darum zu sagen: "So und genau so hat es sich angefühlt, in den ersten Wochen nach 9/11 ein Mensch mit Migrationserfahrung in New York City zu sein." Die Frage, die das Spiel stellt, ist eher: "Hätte es sich so anfühlen können? Und wenn ja: Was bedeutet das für die Betroffenen?" Das ist natürlich ein schmaler Grad, wenn wir als vorwiegend weiße, westliche, bürgerliche Rollenspielgemeinschaft uns anmaßen, auf spielerische Art existenzielle Krisenerfahrungen nachzuempfinden. Man könnte dem die selben Argumente entgegensetzen, die man dem Stereotyp des Elfenbeinturmakademikers (männliche Form bewusst gewählt) nachsagt: Fehlender Bezug zur Realität bei gleichzeitiger Anmaßung, über diese urteilen zu wollen und zu können.

Dieser kritische Vorbehalt hat seine Berechtigung. Man kann ihm damit begegnen, dass man sagt, dass es in der Natur von Rollenspielen liegt, sich in andere Personen hineinzudenken, die gerade nicht sind, wie man selbst. Ich bin keine Jahrhunderte alte Elfe, kein Axt schwingender Zwerg, keine Feuerball werfende Magierin und kein mit göttlicher Macht heilender Kleriker. Trotzdem halten wir diese Standardaufstellung des Fantasy-Rollenspiels in aller Regel für unproblematisch. Nun kann es sein, dass sie das schlicht nicht ist und wir lediglich gelernt haben, diese Zusammenstellung nicht (mehr) zu hinterfragen. Oder aber es ist bis zu einem gewissen Grad wirklich unproblematisch, weil es eben Anliegen von Rollenspielen ist, sich vorzustellen, man sei etwas Anderes. Beide Punkte haben, wieder einmal, ihre Berechtigung und man wird, was in westlichem Denken nur bedingt verankert ist, den Konflikt aushalten müssen. Aufzulösen wäre er wohl nur durch gründliche, empirische Rollenspiel-Forschung, die sich, meines Wissens, nirgends abzeichnet.

Es ist also möglich, dass es nur ein Feigenblatt vor unserer beschämenden Indifferenz ist, wenn wir unsere Einbildungskraft als Kern des Rollenspiels ausweisen (und spätestens seit Kant ist die Einbildungskraft im westlichen Denken als ausnahmslos positiv besetzt, man "widerspricht" ihr nicht). Nehmen wir als Spieler*innen jedoch Menschen an, die mit den besten Absichten spielen (und überhören wir die Unkenrufe der Zyniker, die mit Samuel Johnson rufen, dass der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert sei -- wofür Johnson im Übrigen sicher nichts als Verachtung empfunden hätte). Diese Menschen spielen ein Spiel nicht nur aus reinem Lustgewinn, sondern auch aus einem gewissen Interesse bzw. einer bestimmten Neugier heraus, etwas über die*den Andere*n zu erfahren. Letztlich lässt sich eine solche Erfahrung in vielen (möglicherweise sogar: allen) Rollenspielen machen. Dennoch gibt es Spiele, deren offensichtliches Ziel eben die Eröffnung eines ganz bestimmten Erfahrungsraumes ist. Auch wenn wir keine gute Bezeichnung für diese Art von Spielen haben (geschweige denn eine Definition, aber dazu schreibe ich in Kürze noch etwas ausführlicher), reicht vermutlich ein kurzer Ententest, um zu verstehen, was ein Spiel wie Migrant Stories von DnD oder DSA in seiner Wirkung unterscheidet: Beide ermöglichen die Erfahrung von Andersartigkeit eben auf sehr unterschiedliche Weise (die sich mechanisch fassen lässt, Stichwort "encounterism", oder narrativ, Stichwort "Realismus").

Wo das Dargestellte rein fiktiv ist wie bei klassischer EDO-Fantasy ist der einzige Lackmustest für eine "korrekte" Darstellung des Anderen der Abgleich mit den Regelbüchern (rules as written). Im Fall einer Darstellung realer Lebenswelten (etwa der von Migrant*innen) kommt eine zusätzliche Abgleichsebene hinzu: Die der realen Welt. Auf letztere haben wir natürlich nur wenig Zugriff (radikaler gedacht: gar keinen, Stichwort Qualia, aber so weit muss man die Behauptung nicht treiben). Wie "nah dran" wir also sind, ist immer schwierig zu sagen, zumal wir trotz aller Immersion wissen, dass wir in unserem Wohnzimmer sitzen und kein Scherbengericht oder Schlimmeres zu befürchten haben. Die Situation bleibt selbst bei intensivem method acting immer die einer, wie Klaus Lazarowicz es einst nannte, Triadischen Kollusion: A spielt B während C dabei zusieht (das geht zurück auf eine Definition in Eric Bentleys Buch What is Theatre?). A und C können vielleicht für einen Moment das Gespieltsein von B vergessen, aber sie können nie B werden oder nie vollends in der Vision, B zu sein, aufgehen.

Rollenspiel bleibt damit zur Annäherung. Wo diese behutsam, respektvoll und im Bewusstsein des letztlichen Scheiterns ausgeführt wird, eröffnet sich der oben erwähnte Erfahrungsraum, innerhalb dessen A Erfahrungen machen kann, die nicht dieselben wie die von B sind, aber zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen aufweisen (wer einwendet, es handele sich hier um eine zum Lustgewinn vollzogene kulturelle Appropriation, kann in der Genderswapped Podcast-Folge über kulturelle Aneignung gute Argumente diskutiert finden). Man kann vielleicht bis zu einem gewissen Grad mit anderen Personen mit-fühlen, was ja auch die Etymologie des Wortes Empathie ist. Dieses Erfahren, dieses Fühlen ist dann, um den Bogen zur Einleitung von Migrant Stories zu schlagen, nicht unbedingt die "historische Wahrheit", aber möglicherweise eine gewisse "emotionale Wahrheit". Und diese ist oft unordentlich, messy.

Möglicherweise ist genau diese Unordnung ein zentrales Kennzeichen für die Art von Erfahrung, die man im Rollenspiel macht. "Messy learning" nannte die Spieledesignerin Avery Alder (@lackingceremony) das jüngst in einem Interview mit dem 3W6 Podcast: "I just truly feel that roleplaying games are a great place to do your messy learning" (Folge 4.14, 28:38). Darin enthalten sind die Einsicht, dass der Erfahrungshorizont zweier Menschen nie völlig in Deckung zu bringen ist, (ganz gleich durch welches Maß an Einfühlung), dass immer eine mehr oder minder große Kluft zwischen der Erfahrung von A und der von B liegen wird. Diese unüberbrückbare Kluft zu reflektieren ist wichtig. Schüttete man darum aber das Kind mit dem Bade aus, beraubte man sich einer großen Erfahrungs- und Einfühlungsquelle: Des Rollenspiels. Man wird keine Ordnung in dieses Chaos fehlender Entsprechungen (meine Rollenspielerfahrung X korrespondiert mit der Lebenserfahrung Y) hineinbekommen können; die Erfahrung wird messy bleiben und damit auch fehlerhaft. Aber Migrant Stories basiert auf PbtA. Und ein zentraler Charakterentwicklungsmechanismus von PbtA-Spielen ist bekanntlich das fail forward (bei einer 6-, einem Fehlschlag also, macht man eine besondere Erfahrung, die sich mechanisch in einem Erfahrungspunkt ausdrückt, den man verwenden kann, um den Charakter weiterzuentwickeln). Oder wie Samuel Beckett es einst formulierte:
Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better. (Worstward Ho!
Rollenspiel ist das prozesshafte Ermöglichen der Erfahrung von Andersartigkeit. Der Prozess ist nicht abschließbar. Das Spielen ist ein wichtiger erster Schritt hin zu einer solchen Erfahrung. Anzunehmen, dass man durch Rollenspielen ein besserer Mensch werde, ist naiv. Dazu gehört auch das Nachdenken über das im Spiel Erlebte. Rollenspielen ist nicht per se erkenntnisfördernd, kann es aber sein, wenn es mit Reflektion verbunden ist. Und mit Achtsamkeit. Und Respekt.

Migrant Stories: Regeln

Da es sich um ein PbtA-Spiel handelt, nennt Nell natürlich Apocalypse World als Inspirationsquelle, aber auch Gregor Vugas Sagas of the Icelanders. Wie diese hat es Spielzüge (moves), eine umbenannte SL (The Man), 2W6, stats uvm.

Die stats werden in angeborene (innate) und wahrgenommene (perceived) unterteilt. Erstere sind die Klassiker Stärke, Geschicklichkeit, Weisheit, Cleverness und Charme. Zweitere werden als "the unfortunate byproduct of fear, prejudice and ignorance" (S. 10) gekennzeichnet. Sie zeigen an, wie andere Leute die Figur möglicherweise wahrnehmen: Hautfarbe (dark), Fremdheit (exotic), Sprachklang (accented). Abschließend gibt es noch allgemeine Attribute wie "Suspicion, Will, Hurt, Living, Connections and Favor." Besonders suspicion ist interessant: "When your Suspicion reaches its maximum, you lose access to the Basic and Peripheral Moves." (S. 11), mit anderen Worten: Es können dann vorübergehend nur noch Verzweiflungstaten ausgeführt werden, die sog. desperate moves (s.u.).

Acht Spielbücher stehen zur Auswahl:
  1. The Artist
  2. The Devotee
  3. The Exile
  4. The Homebound
  5. The Hustler
  6. The Laborer
  7. The Refugee
  8. The Street Urchin
Jedes Spielbuch hat eigene Klassenspielzüge und Handlungsmöglichkeiten. Wenn sich die Figuren weiterentwickeln erhalten sie zudem Zugriff auf fünf sog. "Advanced Playbooks" (S. 15-16), die jeweils ein kleines Maß an Sesshaftigkeit und "Ankommen" beinhalten.

Zu guter Letzt die Spielzüge, die unterteilt sind in Grundspielzüge (basic moves), periphäre Spielzüge (peripheral moves) und die erwähnten verzweifelten Spielzüge (desperate moves). Die Grundspielzüge sind an die üblichen PbtA-Spielzüge angelehnt. Wer beispielsweise Apocalypse World oder Dungeon World kennt, findet sich hier schnell zurecht. Die periphären Spielzüge eignen sich, um Alltagsroutine ins Spiel zu bringen. Etwa einen Tag lang schuften (Toil), ein paar Stunden etwas vorbereiten (Prepare) oder sich um einen Unterschlupf für die Nacht kümmern (Seek Shelter). Die Verzweiflungszüge kommen als einzig verwendbare Züge ins Spiel, wenn Suspicion den Wert 5 erreicht hat. Das sind Handlungen wie "Ein Stereotyp bedienen" (Reinforce a Stereotype) oder zähneknirschend "Um Verzeihung bitten" (Beg Pardon). Eine weitere Besonderheit: Bei diesen Zügen wird der stat nicht addiert, sondern subtrahiert! Und ein Fehlschlag bedeutet neben einer schlimmen Konsequenz immer auch einen Anstieg der Suspicion (sozusagen die negative Seite des fail forward in der Charakterentwicklung).

Damit ist Migrant Stories selbst in der unfertigen Playtest-Version bereits ein vielseitiges Spiel und eine gute Weiterentwicklung von Standard-PbtA. 

Migrant Stories: Das Spiel und Spielbericht

Um ein Gefühl für dieses "romantic social drama" (S. 5) zu erhalten, schlägt Nell eine Reihe von Medien vor, die in das Thema und seine Stimmung einführen. Darunter Rainer Werner Fassbinders großartigen Film Angst essen Seele auf (1974) oder Chimamanda Ngozi Adichies Roman Americanah (2013; über den auch der Genderswapped Podcast berichtete). Nell gibt zudem einige Vorschläge für Szenarios: Chinatown, San Francisco: Mid 1800’s, Poverty Hollow, Lower East Side New York: Early 1900’s oder Suburban America: 1960’s. Denn Ausgrenzung ist nicht an Zeit und Ort gebunden, sie kann praktisch überall und immer auftreten.

Unsere Testrunde vom November 2018 lässt sich am besten vom Ende her erzählen. Drei Freund*innen, die aus Syrien in die USA gekommen waren, wurden 2001 wegen eines Missverständnisses von der Polizei festgenommen. Der Weg vom trüben, aber ereignislosen Tag der Drei hin zur Verhaftung war kurz. Eine Provokation, die einen Nerv trifft, ein wütendes Wortgefecht und die Polizei, die im falschen Augenblick erscheint. Und wem glaubt man mehr? Dem weißen US-amerikanischen Mann oder dem jungen und verzweifelten Syrer in der von 9/11 aufgeheizten Stimmung New Yorks? Die Liebes- und Lebensträume der einen Figur wurden durch dieses Ereignis zerstört, die der anderen waren es genau genommen schon bei Beginn des Spiels und die Verhaftung hat allen Hoffnungen von Figur 3 ein jähes Ende bereitet. Das Alltägliche war das Erschreckende an der Runde. Der Streitwert, der zur Eskalation führte? Ein oder zwei Dollar. Im Sinne des oben geschilderten messy learnings war das eine überraschende und unangenehme Erfahrung. Nicht nur Debatten über große Straftaten bestimmen das Leben deprivilegierter Menschen, sondern auch die kleinen Dinge des Alltags, wie die Auseinandersetzung mit einem Menschen über ein oder zwei zu wenig bezahlte Dollar.

Die Runde hat uns nachhaltig beeindruckt und ich bin sehr interessiert daran, dieses schöne Spiel bald wieder zu spielen. Vielleicht ist es bis dahin ja auch schon weiterentwickelt worden?

Man kann Migrant Stories hier auf DriveThruRPG herunterladen.
Ein Entwicklungsbericht auf reddit lässt sich hier nachlesen.
Actual Plays konnte ich keine finden, bin also für Hinweise in den Kommentaren dankbar!
Danke an Gerrit (@greininghaus) für seine kritischen Kommentare zu einem früheren Entwurf dieses Artikels.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Reisender, hinterlasse einen Kommentar auf dem PhexBasar!