Montag, 2. September 2019

#indieseptember Tag 32: "Until Dawn" von Wilhelm Person (2012/14)

Wilhelm Person und seine Spiele

Der schwedische Spieleentwickler Wilhelm Person hat eine Reihe von Spielen designt (ich habe ihn hier interviewt). Seine bekannteren Spiele dürften Okult sein (auch auf dt. in der Übersetzung von Aaron Böhler erhältlich) sowie das schöne shakespearehafte The Daughters of Verona [Actual Play mit Wilhelm] (das, wie so viele gute Spiele, ursprünglich ein Beitrag zum Game Chef-Wettbewerb war, im Jahr 2011, als das Thema Shakespeare lautete und so gute Spiele entstanden wie Jason Morningstars Durance, The Play’s The Thing von Mark Diaz Truman, über das ich letztes Jahr berichtete, Forsooth! von Sam Liberty und Kevin Spak, Lords of Titania von Hamish Cameron sowie das in der Erzählspielszene recht beliebte und auf der 3W6 Con letztes Jahr von Julian (@hyadestroy) und dieses Jahr von Daniel Heßler angebotene My Daughter, The Queen of France von Daniel Wood uvm. Kurz: Shakespeare und Rollenspiel scheint perfekt zusammenzupassen!). 

Until Dawn: Wo es herkommt, was es ist

Aber auch Until Dawn verdient Beachtung, obwohl Wilhelm das Spiel als eine Art contaugliche One Shot-Variante von Okult beschreibt:
In Until Dawn I see the roots of what later became Okult, my modern horror game released in December last year. But Okult does not supersede Until Dawn, they complement each other. Where Okult is slow burning and intended for stories stretching over several sessions, Until Dawn burns bright, living for a single session of strong emotions. A friend asked me for a quick start kit of Okult, something that could be played as a drop-in game at cons. Until Dawn is that. (S. 27)
"First I must acknowledge Jackson Tegu's [@JacksonTegu] game Silver and White as a large source of inspiration." Über das Spiel lässt sich wenig herausfinden, wie Julian auf Twitter richtig anmerkte. Wir wissen, dass es 2010 bei Game Chef teilnahm, aber selbst die Wayback Machine hilft nicht bei der Suche nach dem PDF (ein Auftrag für Rollenspiel-Archäolog*innen!). Zumindest kann man Wilhelm beim Spielen (auf Englisch!) zuhören: Silver and White-Actual Play.

Gut, wir haben nun eine recht gute Vorstellung von der Werkgenese. Worum geht es aber bei Until Dawn? Es beschreibt sich selbst als ein Spiel über "relationships and feelings" (S. 4) und führt näher aus, dass die Hauptfiguren Teenager sind, wie man sie aus Büchern und Filmen kenne: Karikaturen deren Gefühlszeiger auf Anschlag steht. Sie sind Freunde, vielleicht auch mehr. Gemeinsam stehlen sie sich des Nachts fort und in der Nachbarschaft kleinere Sachen (das ist übrigens ein Zeugma in diesem Satz ;)). Dieses nächtliche Expropriieren dient in erster Linie dem Kick, dem Adrenalinschub, aber auch den Banden, die aus diesen geteilten Geheimnissen und Abenteuern erwachsen (S. 4). Der Hauptteil der Geschichte spielt dabei in einer einzigen Nacht, in einem einzigen Haus. Die Jugendbande ist in dieses Haus eingestiegen und... wie sollte es anders sein: In diesem Haus geht es nicht mit rechten Dingen zu, "you will encounter something weird, scary, bizarre or just strange. It
will catch your interest and you will stay in the house until dawn." (S. 6) Zwar können die Figuren darüber diskutieren, das Haus doch besser zu verlassen, aber die Prämisse des Spiels ist, dass sie es am Ende doch nicht tun werden. Zumindest nicht vor Sonnenaufgang. 

Until Dawn: Wie es gespielt wird

Wer mit den Regeln zu Matthijs Holters Society of Dreamers vertraut ist (dt. Gesellschaft der Träumer, von Marcus [@keksnase3000] übersetzt, von System Matters [@SystemMatters] veröffentlicht, vom 3W6 Podcast vorgestellt und Matthijs interviewt), der weiß, dass das Spiel mit einer LARP-artigen Geisteraustreibung beginnt, bei der die Spielenden durch den Raum laufen und mit Krach die Geister und Dämonen vertreiben (GdT, S. 32). Until Dawn ist nicht unähnlich - vermutlich der skandinavischen Affinität zum LARP geschuldet (Stichwort: Nordic LARP). Until Dawn fordert die Spielenden auf, aufzustehen, umherzuschleichen, in Räume zu schauen und dort kleine Objekte zu finden, die man als Trophäe zurück an den Spieltisch bringt, wobei man in Flüsterstimme beschreiben soll, was man noch in den Räumen gesehen haben will (S. 13). In einem amüsanten Nachwort der revidierten Ausgabe von 2014 schreibt Wilhelm, dass er diese Aufwärmübung beibehalten habe, "Partly for completeness to the original game, but also because it has been an appreciated and memorable part of the play testing sessions. [...] I have found that for all it's awkwardness it focuses the players on the game at hand and brings them together." (S. 28)

Beispiel für ein Until Dawn-map sheet (Eigenanfertigung, daher sieht es nicht so gut aus...) ;)

Das Spiel selbst empfiehlt, eine Karte (map sheet) zu erstellen, die in etwa so aussehen könnte wie oben stehende Abbildung (ich bin nicht gut im Erstellen von sowas, man sehe mir den Dilettantismus nach). In der Mitte der verdeckte Stapel mit emotion cards, drumherum der innere Kreis, in dem die Spielercharaktere, die Teenager stehen, die jeweils im Uhrzeigersinn miteinander durch eine Beziehung verbunden sind. Außen ein weiterer Kreis mit Nebencharakteren (eine Art NSCs, die in irgendeiner Beziehung zu den Hauptfiguren stehen, etwas familiär, freundschaftlich etc.). Und am Außenrand der Zeitpfad mit sieben Kästchen: The House → Exploration → Discovery → The surreal → Tension → Danger → Dawn. Mit dem letzten Kästchen, dawn, endet das Spiel, seinem Titel Until Dawn entsprechend. Die Boxen sind zudem auch eine dramaturgische Hilfe und ein pacing-Mechanismus. Bei vier Spieler*innen seien sieben Boxen ideal, so die Regeln (S. 8), bei mehr als vier Spieler*innen können man Boxen weglassen, bei weniger als vier (so wie in meiner Abbildung) könne man ggf. welche hinzufügen. 

Vor Beginn des eigentlichen Spiels ziehen alle eine Emotionskarte und legen sie rechts von sich ab: Sie gibt an, wie im Moment die Stimmung zwischen den beiden Charakteren ist. Die erste Szene fängt mit dem Betreten des unheimlich stillen Hauses an (S. 13). Reihum ist immer ein*e Spieler*in für die Szenengestaltung (setting scenes) verantwortlich: "Bei einer Szene Regie führen" ist das in dem nicht unähnlichen Gesellschaft der Träumer übersetzt (GdT, S. 23). Spieler*in Nr. 1 tickt bei Beginn die erste Box ab und jedes Mal eine weitere, wenn sie*er erneut an der Reihe ist.

Illustration zu Until Dawn
von Elizabeth Porter (*)
Wann immer in der Erzählung die aktive Spielerin jemanden berührt oder von jemandem berührt wird, muss sie entsprechend einer der zwei neben ihr liegenden Emotionskarten handeln. Die Spielerin hat die Wahl, eine neue Karte vom berührenden Spieler ziehen zu lassen, aber damit gibt sie das Erzählrecht an den Mitspieler ab, der nun die emotionale Reaktion erzählen kann. Mit dem Erzählen der Emotion endet auch die Szene und die Aufgabe der Szenengestaltung wandert im Uhrzeigersinn. Bei drei Spieler*innen gäbe es also drei Szenen pro Phase, also 21 Szenen insgesamt, bei vier Spieler*innen wären es schon 28 Szenen, so dass man ein gutes Gefühl für die durchschnittliche Länge bekommt. 28 Szenen à ca. 5 Minuten ≈ 2,5 Stunden.

Die Szenen spielen wie gesagt alle in dem Haus, in dem keine der eingangs erstellten Nebencharaktere herumlaufen. Diese kommen jedoch in den Flashbacks vor, die zwischen Szenen "frei" (also ohne dass eine neue Phasenbox abgetickt werden muss) eingefügt werden können. Während jede*r Spieler*in immer nur ihre*seine Hauptfigur spielt, sind die erstellten Nebencharaktere (bzw. NSCs) frei verfügbar und werden je nach Bedarf von Spieler*innen dargestellt.

Ist die letzte Box abgetickt, geht langsam die Sonne auf und alle Spieler*innen erhalten ein letztes Mal das Regierecht für eine Szene im Haus. Danach verlassen die Charaktere, die noch dazu in der Lage sind, das Haus... Sterben oder Verschwinden sind natürlich Optionen (S. 26). Alle beenden das Spiel mit einem kurzen Charakterepilog. 

Fazit

Illustration zu Until Dawn
von Elizabeth Porter (*)
Das Spiel lässt offen, welche Art von Geschichten es genau erzählen will. Außer dass es ein Spiel über "relationships and feelings" (S. 4) von befreundeten Teenagern ist. Das deutet darauf hin, dass es nicht unbedingt ein survival horror-Spiel ist, wobei der Hinweis auf Tod oder Verschwinden am Ende der Regeln durchaus die Möglichkeit nahelegen, dass es genau ein solches Spiel werden könnte. Zudem hat jede Szene durch die Ein-Wort-Beschreibung eine Art Stimmung vorgegeben, etwa "The Surreal", das erst in der Mitte kommt, man sollte also nicht zu früh die Geister aus dem Hut ziehen... 

Der Berührungsmechanismus (der vermutlich von Jackson Tegu übernommen ist), ist eine schöne Idee, da er geschickt ein zu starkes Aufteilen der Gruppe verhindert. Eine Szene kann nicht enden, ohne eine Berührung von mind. zwei Teenagern. Das klassische "Schau Du mal im Keller nach, Du auf dem Dachboden und ich hier im Erdgeschoss" gibt es also nicht über längere Strecken.

Das Spiel ist zudem SL-los und hat keine Würfel oder ähnliches. Neben der Berührung sind die Emotionskarten die einzige Mechanik. Ich habe es noch nicht gespielt, aber es klingt nach einem sehr reizvollen Erzählspiel über... nun ja, nicht Kinder (so das Wochenthema meiner Blogreihe), aber junge Erwachsene, Teenager, bei denen das Beziehungsgeflecht komplexer ist. 

Das Buch ist schlicht und kurz. Die wenigen s/w-Illustrationen sind schön. Es gibt zwei längere Spielbeispiele, die sehr viel klar machen. Die Regeln selbst passen vermutlich auch auf 3-4 Seiten.

Weiterführendes Material

Wer des Schwedischen mächtig ist, kann in der 42. Folge des Nordnordost-Podcasts von Wilhelm eine Diskussion über Until Dawn hören (ab 33:29).

Jason Cordova (@jasoncordova6) berichtet in einer frühen Folge des Gauntlet-Podcasts (vom Januar 2016) über das Spiel. 

Es gibt ein Computerspiel gleichen Namens, das mit dem Rollenspiel nichts zu tun hat (aber offensichtlich beeindruckende Voice Actors hat, z.B. Hayden Panettiere und Rami Malek). Das macht das Auffinden von APs zum Rollenspiel beinahe unmöglich, da Suchabfragen immer zu APs des Computerspiels führen. Wer Hinweise auf APs von Wilhelms Rollenspiel hat (idealerweise auf Englisch oder Deutsch), die*der schreibe es doch bitte in die Kommentare. Danke!

Until Dawn gibt es auf DriveThruRPG, wo es auch weitere Spiele von Wilhelm Person gibt (insbesondere das bereits erwähnte Okult (hier auf dt.) und das interessant klingende The Academy haben mich neugierig gemacht).

Wilhelm hat für alle Leser*innen von PhexBasar einen Discount-Link erstellt, der bis Jahresende (2019) gültig ist und mit dem Ihr Until Dawn vergünstigt kaufen könnt! Vielen Dank an ihn dafür.

(*) Die Illustrationen verwende ich mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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