Sonntag, 1. September 2019

#indieseptember Tag 31: "Kids on Bikes" von Jon Gilmour und Doug Levandowski (2018)

Kinder. Fahrräder. Mysteryyyy. Fertig ist das Rollenspiel im Stranger Things-Look'n'Feel. Kids on Bikes von Jonathan Gilmour (@JonGilmour) und Doug Levandowski (@Levzilla) besticht durch seine wunderschönen Illustrationen, seine Regelleichtigkeit und seine Fähigkeit, dieses Genre simulieren zu können. Es gewann nicht zu Unrecht den 2019 Gold ENnie for Best Family Game/Product.

Der folgende Artikel nähert sich über einen kleinen theoretischen Exkurs dem Genre. Ich frage erst, was Kids on Bikes überhaupt für ein Genre ist, dann was das Spezifikum des Genres ist, analysiere dann dieses Spezifikum, um mit dem gewonnen Wissen zum Spiel zurückzukehren. Ich denke, da es der erste Artikel meiner kleinen Reihe #indieseptember ist, ist der kleine Umweg vielleicht statthaft. Die folgenden Artikel werden direkter zum Punkt kommen, versprochen! ;)

Was ist das Kids on Bikes-Genre? 

Die Folge 350 des MMP  unterhält sich ausführlich darüber. Ich möchte daher eine Definition von Chris (@MisdirectedMark), Phil (@DNAphil) und Camdon (@camdon) zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen im Allgemeinen (zum Genre und zur Simulation des Genres bei Kids on Bikes) und im Besonderen (das Spiel selbst) nehmen. Die MMP-Definition des Genres:
"Kids on Bikes as a genre based on a group of pre-teens or teens who have some amount of mobility and autonomy, who, independent of any kind of adult authority, solve problems both mundane and supernatural." (35:25-35:39)
Kern des Genres ist also, dass es sich um problemlösende Kinder handelt, wobei diese Probleme sowohl weltlicher Art sein können (bei den Drei Fragezeichen, die in gewisser Weise auch kids on bikes sind, sind das vor allem die späten 40er und 50er-Folgen, die sogenannten Crime Busters-Folgen), aber auch übernatürlicher Art (klassischerweise ist das bei den Drei Fragezeichen nie der Fall, hier ist Stranger Things das bessere Beispiel).


Oftmals dreht sich ein großer Teil der Erzählung darum, herauszufinden, was das Problem ist und zu identifizieren, ob es in die Kategorie "weltlich" oder "übernatürlich" gehört. Erst dann geht, streng genommen, die eigentliche Problemlösung los.
Es gibt Erzählungen, bei denen die Problemidentifizierung und die Problemlösung nahtlos ineinander übergehen, aber auch solche, wo die Teile sehr disparat wirken. Ich würde argumentieren, dass die erste Staffel von Stranger Things ein Beispiel für letzteres ist, da die erste Hälfte der Staffel sich mit dem Problem um das Verschwinden von Will Byers, so der Titel der ersten Folge, auseinandersetzt, also die Frage aufwirft: Was ist mit Will geschehen und wo ist er? Während der zweite Teil, ab Folge 6, passenderweise mit "The Monster" betitelt, eine neue Frage aufwirft: Wie kann das Monster besiegt werden, um Will zu retten? Nach aristotelischer Definition ließe sich sagen, dass die "schönste Tragödie" (oft übersetzt als "beste Tragödie", wobei καλλίστη τραγῳδία wörtlich die "schönste Tragödie" bedeutet; Poet. 1453a) die ist, in welcher Anagnorisis und Peripetie ineinanderfallen, also der Umschlag von Nichtwissen (Agnorisis) in Wissen (Anagnorisis, wörtlich Nicht-Nichtwissen) und der Umschlag von Glück in Unglück (oder vice versa, die Peripetie) (Poet. 1452a). Der Moment des Erkennens des Problems ("Aha, es war ein Monster!") mit dem Moment des glücklichen oder tragischen Lösens des Problems ("Puh, Monster besiegt und Will gerettet"). Aristoteles hätte der ersten Staffel von Stranger Things also vorgeworfen, nicht ganz so stringent zu sein. Er hätte sie vielleicht nicht sehr geschätzt oder bestenfalls auf den zweiten Platz seiner Rangliste verbannt.

Ich hätte da noch eine Frage...! Oder: Was ist eigentlich ein erotetisches Narrativ?

Übersetzt man den Begriff "Problem" in den der "Frage" (Wo ist Will? Lebt Will noch? Wie können wir ihn finden? Wer kann gegen das Monster kämpfen? Wieso wurde Will entführt? usw.), können wir diese Art von Narrativ als erotetisches Narrativ begreifen (von griechisch erotema, "Frage"). Der Begriff geht zurück auf Noël Carrolls Überlegungen zur Erzählstruktur von Texten (und Filmen). In einem jüngeren Fachartikel von 2007, "Narrative Closure" (in: Philosophical Studies: An International Journal for Philosophy in the Analytic Tradition 135:1 (2007): 1-15), beschreibt Carroll diese Art von Narrativ wie folgt:
A narrative of the sort that sustains closure -- what we might call an erotetic narrative -- is a network of questions and answers. (p. 5)
Die Frage ist einer der wichtigsten Spielmechanismen (siehe dazu diesen wunderbaren Beitrag der Storybrewers Vee and Hayley) und die o.g. Definition zeigt jeder eingefleischten Rollenspielperson, weshalb sich das Genre so hervorragend fürs Rollenspiel eignet. Dass Rollenspiel eine Konversation, ein Gespräch, eine Unterhaltung ist, wissen wir spätestens, seit PbtA es zum zentralen Mantra erklärt hat. Was man noch hinzufügen könnte (und was viele PbtA-Spiele ja durchaus auch tun), ist dass diese Unterhaltung ein Frage-Antwort-Spiel ist.

Nehmen wir die Apocalypse World 2e: Der Grundspielzug "Read a Sitch" erlaubt den Spieler*innen der SL Fragen zu stellen (S. 67). Gleiches gilt für den Spielzug "Open your brain to the world's psychic Maelstrom" (S. 67). Der SL wird empfohlen, viele Fragen zu stellen, schon während der Charaktererschaffung: "Ask each a couple of questions about her character." (S. 76), aber besonders während des Spiels: "Ask provocative questions and build on the answers." (S. 82) Kurz: Alle am Tisch Stellen sich gegenseitig Fragen und erzeugen so, im engsten Sinne, ein erotetisches Narrativ. Letzte Woche gab es dazu eine MMP-Folge mit praktischen Hinweisen zum Spielleiten mit Fragen, die ich in diesem Kontext empfehlen kann und die auch auf Jason Cordovas (@jasoncordova6Paint the Scene-Technik eingeht.

Da unsere Kids on Bikes eben i.d.R. Kinder sind (oder junge Erwachsene, a.k.a. Teenager) haben sie von Natur aus viele Fragen und eine gewisse Neugier, diesen auch nachzugehen. In der Regel tun sie das, wie es in der oben zitierten MMP-Definition heißt, "independent of any kind of adult authority." Sei es, weil die Eltern sich nicht für die Kinder und ihre Abenteuer interessieren, sei es, weil sie zu beschäftigt sind, sei es, weil sie abwesend sind. Das Regelwerk von Kids on Bikes trägt diesem Umstand Rechnung, indem es empfiehlt, Kindern die Motivation "neugierig" zu geben (S. 22-23), also dem Drang, eine Frage zu beantworten, auch wirklich nachzugehen.

Kids on Bikes: Die Regeln

Über die Motivation als Regelwert habe ich gesprochen. Das ist ein guter Zeitpunkt, in aller Kürze in die Regeln von Kids on Bikes zu schauen. Es gibt sechs Eigenschaften:
  1. Brains (Gehirn)
  2. Brawn (Muskeln)
  3. Fight (Kampf)
  4. Flight (Schnell weg)
  5. Charm (Charme)
  6. Grit (Charakterstärke)
Auf jede dieser Eigenschaften verteilt man je einen Würfel, von W4 bis W20 reichend, wobei gilt: Höher ist besser. Eine Eigenschaftsprobe wird dann gegen eine von der SL festgelegte Schwierigkeit mit dem entsprechenden Würfel gemacht. Ist das Würfelresultat ≥ der Schwierigkeit, war die Probe erfolgreich.

Grundsätzlich unterscheidet das System zwei Arten von Handlungen: Geplante Aktionen und Spontanhandlungen (S. 29 ff.). Bei Geplanten Aktionen kann man auf den Wurf verzichten und einfach den halben Würfelwert als Resultat nehmen, insofern dieser die Schwierigkeitsstufe erreicht/übertrifft. Auch können bei diesen Aktionen die anderen Charaktere helfen, indem sie Missgeschickssteine (adversity tokens) einsetzen - eine Art Fate-Punkte, die Würfelergebnisse nachträglich verbessern können. Bei Spontanhandlungen kann nur der ausführende Charakter Missgeschickssteine einsetzen. Misslingt eine Probe erhält man dafür einen Missgeschicksstein. Würfel können "explodieren", so dass man theoretisch auch Schwierigkeitsstufen erreichen kann, die über dem höchsten Würfelwert liegen.

Wenn bei der Handlung eine der Ängste des Charakters im Weg steht, sind immer nur Spontanhandlungen möglich. Schlägt das Herz bis zum Hals, ist gezielte Planung einfach nicht drin...

Der letzte wichtige Wert sind Stärken und Schwächen (S. 12f.). Erstere sind mechanisch, zweitere eher "Fluff". Man wählt zu Beginn zwei Stärken für seinen Charakter, die sehr individuelle Vorteile bieten.

Man sieht also, dass das Spiel nicht sehr regelschwer ist. Die Regeln sind aber nicht nur leicht, sondern sehr auf das Genre zugeschnitten. Das lange Planen kennen wir aus zahlreichen Folgen des Genres (z.B. Stranger Things 1x08 "The Bathtub"). Ebenso die spontanen "Jetzt-aber-schnell"-Handlungen. Werte wie "Grit" eignen sich gut, um zu zeigen, wie die Kids angesichts des Grauens reagieren. Die gemeinschaftliche Verwendung von Missgeschickssteinen symbolisiert ihr Zusammenarbeiten. Ihre Motivation ist etwas, das dafür sorgt, dass die Charaktere auch wirklich die Dinge tun, die man im echten Leben wohl eher lassen würde. Und die Stärken sind ein bisschen die typischen One-Liner: Der schlaue Justus, der sportliche Peter, der vernetzte Bob...

In unserer Testrunde im August 2019 haben alle Beteiligten die Regeln nach kurzer Erklärung verstanden gehabt und es gab im Spielverlauf keine größeren Unklarheiten. Im Handumdrehen fügte sich unsere Erzählung nur durch die Angaben der initialen Stadterschaffung zu einem genretypischen Plot mit einem Monster und unheimlichen Begegnungen und einem interessanten powered character -- dazu mehr im nächsten Abschnitt.

Und was ist mit Eleven?

Die Kids sind gewöhnliche Kinder. Man kann aber auch (bzw. laut Regeln: sollte sogar) einen "powered character" einführen, wie Eleven in Stranger Things. Das Besondere: Dieser Charakter wird kollaborativ gespielt. Jede*r Spieler*in erhält bei Auftauchen dieses powered characters einen oder zwei Aspekte, der eingesetzt werden kann, um etwas zu bewirken. Dafür greifen die Spieler*innen aus einem Pool an PE-Steinen (Psychische Energie) zurück. Je nach Würfelwurf muss mal mehr, mal weniger aus dem Pool genommen werden - und die Nebenwirkungen reichen von Nasenbluten zu sofortiger Ohnmacht (oder auch schlimmer). (S. 41 ff.) Das Spiel bietet mit einer Reihe von Tabellen im Anhang viele Anregungen, wie dieser Charakter aussehen könnte und über welche Kräfte sie*er verfügen könnte.

Dass der powered character nicht von einer Person allein gespielt wird, spiegelt wider, wie sehr diese Figur im Mittelpunkt des Beziehungsnetzes steht. Auch hält es das erotetische Narrativ am Laufen, da eine mit Fate-Punkten ausgestattete Eleven Problem anders lösen würde, als unsere Kids (und tatsächlich stellt Eleven im Verlauf der Serie eher naive Fragen über Dinge, die für die Kids alltäglich sind, als die erotetischen Fragen des Plots zu stellen).

Es gibt auch ein Kartendeck für die powered characters. Wer Lust hat, dafür $15.00 auszugeben...

Kritik zum Schluss, aber nur wenig

Das Spiel macht seine Sache sehr gut. Es ist "tropy". Es ist regelleicht ohne regellos zu sein. Es ist schön geschrieben und enorm schön illustriert und layoutet. Kurz: Wer Stranger Things und Erzählspiele mag ist hier goldrichtig. 

Kritisch anzumerken ist höchstens -- wie leider viel zu oft bei Rollenspielbüchern -- das eher bescheidene Lektorat. Ich habe selber eine Reihe von Büchern herausgegeben und lektoriert und weiß daher, dass es eine wirklich wichtige und zeitintensive (ergo: teure) Tätigkeit ist. Daher sparen Verlage manchmal an diesem Punkt, verzichten ganz darauf, machen es in-house von jemandem, die*der dafür gar nicht so gut geeignet ist oder geben es einem befreundeten Kumpel, die*der als Dank 75 EUR, ein Gratisexemplar und eine Danksagung im Buch bekommt. Auch bei Kids on Bikes scheint man hierbei nicht gerade riesige Geldbeträge in die Hand genommen zu haben. 

Da steht z.B. auf S. 23, dass die mechanischen Implikationen der Angst (fear) im Abschnitt über "Geplante Aktionen und Spontanhandlungen" auf S. 29 diskutiert werden. Pech nur, dass sie das nicht werden (siehe Dougs Post dazu). Dazu gehört auch, dass einige Stärken wie "heroic" auf die Missgeschickspunkte verweisen, um Ängste zu überkommen (was wir ja nicht wissen, weil die Regel fehlt). Es gibt also ein Netz an fehlenden Querverweisen. Oder es steht geschrieben, dass die Stärken immer eine mechanische Auswirkung haben. Welche das bei der Stärke "gross" sein soll, wird allerdings nicht erwähnt: "You have some kind of gross bodily trick (loud, quiet, smelly... up to you) that you can do on command."

Das und ein halbes Dutzend weiterer unnötiger Fehler, die offensichtlich das Resultat aus einem fehlenden oder oberflächlichen Lektorat sind, sind dann ein Wermutstropfen im Paradies. Denn es wird eine Errata-Liste geben, die man sich ausgedruckt neben das Buch legen muss. Und in Kürze wohl eine 2nd edition -- zum Ärgernis all derer, die Geld für eine recht fehlerhafte erste Ausgabe bezahlt haben. 

Verlage: Ich weiß, Ihr verdient Euch nicht reich mit diesen Produkten. Aber fangt bitte an, ins Lektorat und Korrektorat zu investieren. Danke!

Weiterführende Links

Wer mehr über Kids on Bikes erfahren möchte, sei auf folgende Links verwiesen:

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