Im letzten Jahr habe ich gelegentlich über die Gauntlet Community geschrieben. Damals, im September 2019, war ich noch kein aktives Mitglied, das wurde ich erst im Oktober. Ich will hier gar nicht das Hohelied auf den Gauntlet singen. Vielmehr will ich darauf hinweisen, dass der Gauntlet dabei zu sein scheint, den nächsten logischen Schritt zu gehen. Von einer Gaming Community, die über 200 Spiele pro Monat anbietet mit Usern aus aller Welt (ich hatte tatsächlich schon Spiele mit Leuten auf vier Kontinenten), einer Community, die allerlei Inhalte über Rollenspiele produziert (Podcasts, ein Forum, einen Blog, Actual Plays auf YouTube, einem Zine, einer Con uvm.)... hin zu einer Community, die auch Rollenspiele selber produziert. Die Liste der Spiele, die Forged in the Gauntlet sind, ist bereits jetzt beeindruckend (siehe diesen Blogpost von Gauntlet-Gründer Jason Cordova; @jasoncordova6) und ich bin sicher, dass in naher Zukunft weitere spannende Spiele hinzukommen werden.
Warum erzähle ich das? Weil das heute vorgestellte Spiel ebenfalls ein Forged in the Gauntlet-Spiel ist. In dem bereits erwähnten Blogpost wird Spieleentwickler Jesse Ross zitiert:
Basically everything I've worked on has been nurtured by this community, but the two big ones are Girl Underground and Trophy. Girl Underground is inspired by Alice’s Adventures in Wonderland, The Wizard of Oz, and similar tales. Girl Underground is a Powered by the Apocalypse game about a curious girl and her strange companions as they travel through a wondrous world, complete a quest, and find the way back home.
Das ist auch gleichzeitig ein hervorragend Elevator Pitch für dieses Spiel: Girl Underground.
Girl Underground: Die Regeln
Girl Underground ist ein PbtA-Spiel. Das heißt, es gibt Playbooks und 2W6-Würfe mit Erfolgsstufen. Aber in einigen Punkten weicht es dennoch von PbtA deutlich ab. Konzentrieren wir uns auf diese Abweichungen.
Das Offensichtlichste zuerst: Das titelgebende Girl wird kollaborativ erstellt und gespielt. Die einzelnen Spielbücher werden individuell an die anwesenden Spieler*innen verteilt, nur das Mädchen wird gemeinsam gestaltet. Auch steht die Geschichte des Mädchens im Zentrum, die ihrer Begleiter*innen ist, dem Namen entsprechend, lediglich begleitend. Das ist ungewöhnlich, da man sich aus alter PbtA-Gewohnheit zunächst auf die Spielbücher konzentriert.
Zu den wichtigsten ungewohnten (d.h. PbtA-unüblichen) Werten für das Girl zählen Benimmregeln (manners) und Überzeugungen (beliefs). Benimmregeln sind gesellschaftliche Vorschriften, was ein Mädchen ("a young lady") zu tun und zu lassen hat ("Young ladies must never..." bzw. "Young ladies must always...") -- und natürlich gilt, dass diese Regeln "unfair and very wrong" sind (S. 10). Zu Beginn sammeln die*der Guide (also die SL) und die Spieler*innen zusammen acht solcher Benimmregeln, die sie jeweils auf eine Karteikarte schreiben. Das gibt schon eine Richtung vor, in die sich das Spiel entwickeln wird. Denn das Mädchen wird Erfahrungen in der Wunderwelt machen, indem es gegen diese Benimmregeln verstößt.
So könnte es beispielsweise gegen die Benimmregel verstoßen, dass sich junge Mädchen niemals schmutzig zu machen haben, um Freund*innen zu helfen, die im Sumpf feststecken. In solchen Konfliktsituationen löst das Mädchen den Spielzug "Nicht aufs Benehmen achten" (Refuse to Mind Your Manners) aus. Bei einem entsprechenden Würfelergebnis wird die Karteikarte mit der Benimmregel umgedreht und auf deren Rückseite eine in der Situation neu gewonnene Überzeugung (belief) geschrieben. Im oben genannten Beispiel könnte die Überzeugung, die das Mädchen aus dem Verstoß gegen die Benimmregel der Sauberkeit gewinnt, lauten: "Wer Freund*innen helfen will, darf sich ruhig die Hände schmutzig machen".
So könnte es beispielsweise gegen die Benimmregel verstoßen, dass sich junge Mädchen niemals schmutzig zu machen haben, um Freund*innen zu helfen, die im Sumpf feststecken. In solchen Konfliktsituationen löst das Mädchen den Spielzug "Nicht aufs Benehmen achten" (Refuse to Mind Your Manners) aus. Bei einem entsprechenden Würfelergebnis wird die Karteikarte mit der Benimmregel umgedreht und auf deren Rückseite eine in der Situation neu gewonnene Überzeugung (belief) geschrieben. Im oben genannten Beispiel könnte die Überzeugung, die das Mädchen aus dem Verstoß gegen die Benimmregel der Sauberkeit gewinnt, lauten: "Wer Freund*innen helfen will, darf sich ruhig die Hände schmutzig machen".
Diese neu gewonnenen Überzeugungen (beliefs) können wiederum für den Spielzug "Steh zu Deinen Überzeugungen" (Stand Strong in Your Convictions) verwendet werden. Für jede Überzeugung, die in den Spielzug eingeht, wird 1W6 gewürfelt und anschließend die beiden höchsten zusammengezählt (S. 11).
Ein Beispiel: Das Mädchen muss das Lieblingstrüffelschwein der Herzkönigin wiederfinden, damit diese ihren Freund, die Vogelscheuche, freilässt. Das Trüffelschwein suhlt sich aber im Sumpf und fühlt sich dort im wahrsten Sinne des Wortes sauwohl. Um es zu überreden, muss sich das Mädchen auf seine Überzeugungen besinnen. Etwa die oben formulierte: "Wer Freund*innen helfen will, darf sich ruhig die Hände schmutzig machen". Dafür gibt es 1W6. Für jede weitere Überzeugung, die dem Mädchen hierbei helfen könnte, erhält man einen weiteren W6. Etwa "Man muss nicht alles schweigend hinnehmen" und "Unter Umständen darf man auch mal schummeln". Die*der Spieler*in des Mädchens erklärt, dass das Mädchen in den Sumpf hineinwatet (Überzeugung 1) und dabei lautstark auf das Trüffelschwein einredet, ihm seine Meinung sagt (Überzeugung 2) und ihm von einer noch matschigeren Matschpfütze im Garten der Königin vorlügt (Überzeugung 3). Mit 3W6 wird gewürfelt, die zwei höchsten zusammengezählt und idealerweise eine 10+ erreicht.
Auch die Erfolgsstufenangaben sind anders dargestellt, als in vielen PbtA-Spielen üblich, nämlich nur für 6- (was in vielen PbtA-Spielen als konkrete Angabe fehlt) und als 7+. Das ist auch grafisch sehr schön dargestellt, wie das nachstehende Beispiel eines Spielzugs des Spielbuchs The Construct zeigt:
Das zweispaltige Layout ist konsequent durchgezogen, so dass man sich sehr schnell in den Spielzügen zurechtfinden kann. Eine wirklich gute Design-Idee! Auch hat die 6- nie eine katastrophale Konsequenz, sondern bedeutet eher einen narrativen Twist oder eine Anweisung, was es beim nächsten Mal zu beachten gilt. Etwa: "What is this malaise that you feel?" (Mythic-Move) "What do I find instead of the treasure?" (Runaway-Move), or "What do you learn that will help you overcome the challenge next time?" (Girl-Move). Eine 10+ ist also ein Erfolg, bei einer 7-9 gibt es immer eine Komplikationsangabe ("On a 7-9, also: ..."). Bei einer 6- wird das Erzählrecht i.d.R. abgegeben, z.B.: "Ask them..." oder "Ask the Guide..." oder "Ask the table...".
Alle Spielzüge führen zu Fragen ("You’ll notice the Moves in this game all result in questions." [S. 9]). Auch das ist eine schöne Vereinheitlichung, die dazu führt, dass man sich in Girl Underground sehr schnell zurechtfindet und dass die Geschichte nie stehenbleibt.
Wie erwähnt gibt es keine Eigenschaftswerte (stats), die zu den 2W6 hinzuaddiert werden, so dass die Wahrscheinlichkeit bei genau 50/50 liegt. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Wenn ein*e Begleiter*in beim Spielzug von einer bestimmten Überzeugung des Mädchens inspiriert wird, werden 3W6 gewürfelt und die beiden höchsten Würfel genommen (also ein klassischer Vorteilswürfel).
Es gibt kein Aufstiegssystem, keine XP und kein XP-basiertes "fail forward", wie in vielen anderen PbtA-Spielen. Das bedeutet auch, dass alle Figuren bereits zu Beginn des Spiels über alle möglichen Klassenspielzüge verfügen ("You have all these moves."). Der Fortschritt im Spiel wird an der Zahl gebrochener Benimmregeln (und daraus gewonnener Überzeugungen) gemessen: "She’ll complete a quest and return home changed." (S. 6)
Girl Underground: Die Aufgaben der SL
Als SL (story guide oder einfach nur Guide) wird man in den Regeln von Girl Underground sehr gut an die Hand genommen. Die Seiten 28-30 beschreiben auf engem Raum alles, was man wissen muss. Dort wird berichtet, wie man sich Jason Cordovas (@jasoncordova6) Paint the Scene geschickt zunutze macht, um das Spiel vorwärts zu bringen und die SL-Bürde der Kreativität zu teilen (S. 28); welche Prinzipien man verfolgt (S. 29) und welche Spielzüge man anwenden soll, um das zu tun (S. 30).
Die SL-Prinzipien sind nach meinem Dafürhalten oft die wichtigste Sektion eines PbtA-Regelwerks, da sie auf den Punkt bringen, was für eine Art von Spiel es ist und welche Art von Geschichte erzählt werden kann/soll. Die acht Prinzipien von Girl Underground sind (frei übersetzt):
- Mache die Welt zu einem wundervollen und gefährlichen Ort
- Mache Deine Figuren zu skurrilen und unvergesslichen Gestalten
- Erschaffe Situationen, in denen Manieren von Bedeutung sind
- Erschaffe Probleme, für die sich die Überzeugungen des Mädchens eignen
- Führe den Weg durch den Untergrund
- Führe Elemente ein, um das Thema zu unterstreichen
- Sei ein Fan des Mädchens und ihrer Begleiter*innen
- Zeige Deine Spielzüge durch die Fiktion
Wundervoll und gefährlich, zeigt, dass es kein reiner Rundgang durch ein Kuriositätenkabinett sein soll, bei dem weder Mädchen noch Begleiter*innen eine Gefahr droht. Skurril und unvergesslich sollen die Wesen hier unten sein und idealerweise eine Art Benimmregel verkörpern. Auch die SL-Spielzüge zeigen schnell, welche Art von Gefahren im Untergrund lauern: "Außer Gefecht setzen (aber niemals töten)" und "Bedrohen (aber niemals töten)" (S. 30).
Die Seiten 31-42 enthalten abschließend für die SL noch eine Reihe von Örtlichkeiten (locations), die man im Spiel verwenden kann. Diese sind auf bestimmte Typen von Mädchen zugeschnitten (auf neugierige, abenteuerlustige, verlorene, rebellische usw.) und enthalten Vorschläge für Figuren, die dort auftauchen, Probleme die sich dort stellen könnten und Fragen, die sich dort aufdrängen. Die Halle der Zehntausend Masken z.B. fragt: "Welche Maske nimmst Du Dir?" oder "Welche Art von Feierlichkeit wird dort begangen". Jede Örtlichkeit wird mit einer hilfreichen Infobox "How to use this Location" abgeschlossen, in der man z.B. Angaben findet wie: "Pick one or two focal characters that suit your tone and create space for the Girl to challenge him. Each one, apart from January, represents a facet of toxic masculinity." (S. 35).
Es geht weiter mit einer kurzen Taktung: Welche Schritte, in welcher Reihenfolge, mit wie viel Zeit pro Schritt. Das muss man nicht so befolgen (es ist schließlich keine Benimmregel), hilft aber bei der Orientierung, wie lange solche Phasen idealerweise dauern können oder sollen.
Das abschließende Spielbeispiel, "based on an actual session", zeigt drei Gauntleteers beim Spielen, Leandro, Sabine, und Sam (von denen ich die beiden ersten aus zahlreichen Runden kenne und schätze!) (S. 46-47).
Fazit
Girl Underground erzielt viele Pluspunkte in der Knappheit und Schlichtheit der Regeln (weniger als 50 Seiten insgesamt).
Weitere Pluspunkte gibt es für deren Klarheit: Das Spiel macht in jedem Satz deutlich, was es will. Das ist manchmal selbst bei sehr guten PbtA-Spielen nicht immer der Fall. Es ist für erfahrene Rollenspieler*innen sicher nicht leicht, zu akzeptieren, dass es um das gemeinsam gespielte Mädchen geht und nicht so sehr um die Begleitfiguren, die als PbtA-Spielbuch vor allen Spieler*innen am Tisch liegen. Das bedeutet auch, dass nicht notwendigerweise alle Mitglieder der "Party" (in DnD-Sprech) immer anwesend sein werden. Ein*e Spieler*in wird idealerweise das Mädchen in der Szene spielen, so dass ihre*seine eigene Spielfigur in der Szene nicht oder höchstens passiv anwesend ist. Die Spielbücher geben auch hier Hinweise, wie sich das gut umsetzen lässt. Etwa: "It’s okay for the Mythic be gone for a short while—their player can take on the Girl during that time—but look for challenges where the Mythic’s return can get the group out of a tough spot." (S. 48)
Außerdem ist die Darstellung der Regeln (siehe obiges Beispiel) und die Einheitlichkeit der Darstellung ein Riesenplus! Hier haben sich Jesse und Lauren wirklich viele kluge Gedanken gemacht und man kann ohne Übertreibung sagen, dass sich selbst die ganzen Großen im Geschäft davon ruhig eine Scheibe abschneiden könnten.
Die s/w-Illustrationen sind schön. Es hätten vielleicht ein paar mehr sein können. Und ich mag ja illustrierte Spielbücher persönlich sehr (manche empfinden deren Illustrationen hingegen als zu stark die Vorstellung lenkend). Kurz: Ich hätte mir je eine Illustration pro Spielbuch gewünscht.
Damit ist das Buch in seiner DIN A5-Heft-formatigen Weise, mit dem grünen Cover und der schlichten Aufmachung eine Bereicherung jeder Sammlung. Weil es ein Heft ist, gibt es keinen Buchrücken, der im Regel Eindruck macht, aber hat man das Heft in der Hand, wirkt es sehr schön.
Das Spiel selbst ist PbtA mit originellen und schönen Änderungen. Ich habe es selbst als SL spielgetestet. Das Ende der Runde steht noch aus. Aber die erste Sitzung hat allen Beteiligten viel Spaß gemacht. Das Mädchen ist auf der Suche nach seiner Maus und fürchtet, dass der Hungrige Katzenkönig sie gefangen haben könnte. Es hat bereits seine Begleiter*innen getroffen und macht sich mit diesen nun auf den Weg, die Maus zu retten. Für das Treffen der Begleiter*innen haben wir jeweils ca. 15-20 Minuten gebraucht. Da die Rolle des Mädchens aber wandert, musste niemand lange inaktiv am Tisch bleiben. Ich bin gespannt, wie die Reise des Mädchens zu Ende geht und welche Benimmregeln sie missachten wird!
Wer Interesse an dem Spiel hat, kann sich hier für den Newsletter anmelden: girlunderground.org.
Wer Interesse an dem Spiel hat, kann sich hier für den Newsletter anmelden: girlunderground.org.
Actual Plays
Der wunderbare SL David Morrison leitet eine Runde über den Gauntlet
Zweite Runde von David Morrison
I Need Diverse Games spielt GU
Happy Jacks RPG spielt GU
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