Sonntag, 10. Oktober 2021

Der Kanon: Das natürlich Immergute oder eine Waffe im Kulturkonflikt?

Bildquelle: Netzverb (www.verbformen.de)
(CC BY-SA 4.0)

"Alles Alte ist gut, alles Neue... nicht so sehr. Das Alte ist Kanon, das sagt doch schon alles über seine Qualität aus!" (frei nach konservativen Rezensenten [absichtlich nicht gegendert] im Internet). 

"Holt Euch einen Kaffee, wir schauen uns das mal zusammen genauer an." (frei nach Mai Thi Nguyen-Kim; sorry, Mai, ich mag keinen Tee, Deine Sendung ist trotzdem wunderbar)


Vor zwölf Jahren schrieb ich einen Blogeintrag zum Thema "Was ist ein literarischer Kanon?". Darin ging es um Kanonisierung, also darüber, wie ein literarischer Text in diesen geheimnisvollen Kanon aufgenommen wird. Der Artikel ist alt und enthält ein paar Punkte, die ich heute anders formulieren würde, aber insgesamt stehe ich immer noch zu dem dort geschriebenen. Und das, obwohl (oder: weil) ich mich in der Zwischenzeit sehr intensiv mit diesen Fragen weiterbefasst habe: Ich habe mehrere Uni-Seminare zum Thema "Kanon" und "Kanonisierung" unterrichtet, ich habe Fachartikel zu dem Thema in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht (Literaturangaben siehe unten) und ich habe auf Konferenzen zu diesen Fragen referiert und mit anderen Forschenden diskutiert (meine credentials lassen sich hier nachlesen). Und trotz des langen und intensiven Nachdenkens darüber, glaube ich, dass meine damalige Antwort auf die Frage "Was ist ein Kanon?" auch meine heutige Antwort auf die Frage ist: 

Ein Kanon sagt weniger etwas darüber aus, welche Bücher lesenswert sind und welche nicht. Ein Kanon sagt vielmehr etwas über den aus, der ihn geschrieben hat. (literaturen.net, 30.08.2009)

Ich möchte mich daher in diesem Beitrag mit drei Vorstellungen von "Kanon" und "Kanonisierung" beschäftigen, die mir immer wieder begegnen und die, wie ich glaube, oft falsch verstanden werden. Wie gesagt, etwas längerer Artikel, holt Euch einen Kaffee.

Erstes Alltagsverständnis von "dem" Kanon: Er ist ewig

CC0 Public Domain
Das obige Zitat widerspricht der allgemeinen Auffassung, ein Kanon sei etwas, das von Personen, Zeiten, Geschmäckern unabhängig ist (in Fachsprache: transhistorisch). Wenn ein Literatur-Kanon im Jahr 2021 noch Sophokles und Homer und Sappho enthält, scheint ja was dran zu sein, dass diese Werke überzeitlich sind, Klassiker eben, wie man landläufig sagt, was der Duden so definiert: "Werke, [die ...] als mustergültig und bleibend angesehen werden" (duden.de). Mit anderen Worten: Klassiker sind, was bleibt. 

In der Philosophie (fachsprachlich genauer: der philosophischen Hermeneutik) hat das der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode wie folgt auf den Punkt gebracht: "[...] ein Bewusstsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung, [...] eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet" (Wahrheit und Methode, 6. Aufl., 1990: 293).

Zeitlose Gegenwart... das klingt ein bisschen nach konservativer Kulturpolitik (oder nach Esoterik, hallo Hufeisen!). Aber dieses Denken ist, das sei gleich vorweggesagt, nicht nur ein Anliegen der Konservativen und Rechten. Auch Linke haben sich diese Frage immer wieder gestellt (allerdings andere Antworten gefunden). So schrieb zum Beispiel Karl Marx in seinem Fragment gebliebenen Buch Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1857-58): 

Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten. (MEW 13: 640f).

Wie kann es sein, fragt sich Marx, dass uns z.B. die alten Griechen "noch Kunstgenuss gewähren"? Wie kann man im Jahr 1857 (oder 2021) noch Homer genießen? Denn, so Marx, ihre Welt ist nicht mehr die unsere. Was können wir also aus diesen Büchern für unsere heutige Welt ziehen (sowohl an Lehren, als auch an Vergnügen)? Denn: Wenn diese Bücher uns überhaupt nichts mehr zu sagen hätten, wären sie bestenfalls historisch interessant, Museumsstücke, deren Alter man bewundern, deren einstige historische Bedeutung man sich erschließen kann. Aber berühren könnten sie einen nicht mehr. Marx fragt: "Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei?" (MEW 13: 640f); es ist jedoch eine rhetorische Frage, womit er darauf hindeutet, dass die antike Literatur uns immer noch etwas zu sagen hat und uns immer noch berühren kann, mit anderen Worten, dass die Literatur aus dem 8. Jahrhundert v.u.Z. auch heute noch lebendig ist.

Aus Marx' Äußerungen ließe sich nun schließen, dass es bestimmte Werke gibt, die einfach so gut sind, dass sie auch fast 3.000 Jahre nach ihrer Entstehung den Menschen "noch Kunstgenuss gewähren". Ein Buch, das 2021 geschrieben wird, wird dann auch im Jahr 5021 noch von den Menschen genossen werden (falls es dann überhaupt noch Menschen gibt). Genau das ist das Alltagsverständnis von "dem" Kanon: Er ist eine Sammlung von erlesenen Werken, die ewig sind (in Fachsprache: man betrachtet sie sub specie aeternitatis, also als quasi-religiöse Artefakte). "Eben das sagt das Wort 'klassisch', daß die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft eines Werkes grundsätzlich unbegrenzt ist" (Gadamer a.a.O.).

Diese Deutung, so geläufig sie ist, übersieht, dass aus der Tatsache, dass wir heute noch "die Griechen" lesen, überhaupt nicht folgt, dass wir das auch in fünfzig, hundert oder tausend Jahren tun werden. Es ist zwar für viele von uns schwer vorstellbar, dass eine Zeit kommen könnte, in der Homer und Shakespeare nicht mehr gelesen und genossen werden, aber es ist immerhin möglich. Denn, wie der marxistische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton sagt, wir schreiben "unseren Homer" und "unseren Shakespeare" mit jeder Lektüre neu: "All literary works, in other words, are 'rewritten', if only unconsciously, by the societies which read them; indeed there is no reading of a work which is not also a 're-writing'" (Eagleton 2004: S. 11: "Alle literarischen Werke werden gewissermaßen  von den Gesellschaften, die sie lesen, 'umgeschrieben', wenn auch unbewusst: Tatsächlich gibt es kein Lesen eines Werkes, das nicht immer auch ein 'Umschreiben' wäre"). Wenn wir also keinen Grund haben, einen literarischen Text für uns neuzuschreiben, dann hören Klassiker auf, lebendige Klassiker zu sein und werden zu leblosen Museumsstücken. 

Aber das bedeutet auch: Überzeitlichkeit, Ewiggültigkeit... all das sind keine Eigenschaften, die bestimmten Werken innewohnen (fachsprachlich: inhärent sind), sondern Ergebnis einer Begegnung mit ihren Leser*innen. Ob etwas, das wir heute genießen, auch morgen noch genossen wird, ist unsicher. Kanonische Werke haben zwar den Test der Zeit wiederholt erfolgreich bestanden, aber niemand kann garantieren, dass sie diesen Test darum immer wieder bestehen werden. Ja, mehr noch, es ist noch nicht einmal gesichert, dass wir Klassiker auch wirklich genießen. Mark Twain definierte "Klassiker" einmal so: "Something that everybody wants to have read and nobody wants to read" (Twain, n.pag.: "Etwas das alle gelesen haben, aber nicht lesen möchten")...

Wir halten fest: Kanonisch zu sein, bedeutet nicht, dass etwas ewig ist. Der Kanon ist nicht eine Ansammlung von Dingen, die ewige Gültigkeit haben oder die auf ewig genossen werden. Den Werken des Kanons wohnt nicht die Eigenschaft der Ewigkeit inne; wir, als Gesellschaft, als lesende Individuen, verleihen ihnen diesen Status mit jeder Lektüre aufs Neue. 

Zweites Alltagsverständnis von "dem" Kanon: Er beinhaltet "das Beste"

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Dass der Kanon eine Ansammlung "des Besten" sei, ist ein alter Gedanke. Erstmals in dieser geläufigen Form formuliert hat ihn der englische Kulturkritiker Matthew Arnold im Jahr 1869 in seinem Werk Culture and Anarchy, wo er dieses Kanonisch-Beste wie folgt beschreibt: "the best which has been thought and said in the world" (S. 5: "das Beste, das in der Welt gedacht und gesagt worden ist"). Blöd nur, dass Arnold keine Definition mitliefert, was etwas zu "the best" macht. 

Das ändert sich auch bei all denen nicht, die nach Arnold über den Kanon und über "das Klassische" nachdachten, wie z.B. bei Literaturnobelpreisträger T.S. Eliot. Der schrieb in seinem Vortrag "What is a Classic?" (1944) (zu dem es hier eine gute Analyse gibt), dass ein Klassiker nur entstehen könne, "when a civilization is mature; when a language and a literature are mature; and it must be the work of a mature mind" (S. 10: "wenn eine Zivilisation reif ist; wenn eine Sprache und eine Literatur reif sind; und es muss das Werk eines reifen Geistes sein"). Ja, und ratet mal... genau, Eliot gibt natürlich keine Definition, was diese maturity, diese Reife einer Gesellschaft, genau bedeutet. Er bleibt bewusst vage, wenn er schreibt: "To define maturity without assuming that the hearer already knows what it means, is almost impossible" (ibid.: "Reife zu definieren, ohne anzunehmen, dass die Leute bereits wissen, was das bedeutet, ist beinahe unmöglich"). Wir halten fest: Laut Eliot entstehen Klassiker, wenn eine Zivilisation die nötige Reife erlangt hat, aber was diese Reife genau ist, lässt sich nicht sagen; ist aber auch nicht nötig, die Reifen wissen es eh schon ("to make it [...] apprehensible to the immature, is perhaps impossible", Eliot 10: "die Bedeutung von Reife den Unreifen verständlich zu machen ist vermutlich unmöglich"). Klingt ganz schön nach "Des Kaisers neue Kleider": Nur die Klugen können die Kleider sehen; hier: Nur die Reifen können Reife verstehen. Und zack, traut sich niemand zuzugeben, dass er*sie keine Ahnung hat, was genau das bedeutet. Die Definition von "Klassischem", von "Kanon" als "das Beste" läuft so ins Leere. 

Ein weiteres Beispiel (nach Arnold und Eliot) sei mir gestattet, weil der Autor auch über den rein akademischen Bereich hinaus eine breite Wirkung hatte (zu seiner problematischen Persönlichkeit und seinem Fehlverhalten, siehe hier). Die Rede ist von Harold Bloom, dessen Buch The Western Canon in den 1990er Jahren für großes Aufsehen sorgte. Darin bespricht Bloom 23 Autoren und drei Autorinnen, die für ihn den Kanon der westlichen Welt darstellen. "They have been selected for [...] their sublimity," schreibt Bloom, und weil sie "the major Western writers" seien (Bloom S. 2; "Sie wurden ausgewählt auf Grund ihrer Erhabenheit [und weil sie] die wichtigsten westlichen Schriftsteller*innen sind"). Wie bei Arnold ("the best") und Eliot ("the mature") erneut ein Begriff zur Kennzeichnung dieser Werke: "sublimity", Erhabenheit

Der Begriff des Erhabenen hat eine lange Geschichte in der Ästhetik und es wäre müßig, sie hier nachzuerzählen. Seit Kant wird er, vereinfacht gesagt, mit Größe in Verbindung gebracht: "Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist," schreibt Kant in der Kritik der Urteilskraft. Größe, greatness, also. Und was ist das laut Bloom? 
I have tried to confront greatness directly: to ask what makes the author and the works canonical. The answer, more often than not, has turned out to be strangeness, a mode of originality that either cannot be assimilated, or that so assimilates us that we cease to see it as strange. (Bloom S. 3)
Was für ein Ritt. Die Verengung von Literatur auf 26 Autor*innen wird mit dem Erhabenen gerechtfertigt, das als Größe verstanden wird, was über strangeness, Fremdartigkeit definiert wird. Wenn wir ein Werk lesen, das nicht unsere Erwartungen erfüllt ("a fulfillment of expectations", Bloom S. 3), sondern dass uns als "stranger" begegnet, als "uncanny startlement" (Bloom S. 3), dann ist es groß/erhaben/klassisch/kanonisch. Das ist immerhin mal eine Art von Definition; etwas mit dem man arbeiten kann. Sie erinnert an Bertolt Brechts V-Effekt (der wiederum aus Viktor Schklowskis berühmten Aufsatz "Kunst als Verfahren" von 1917 stammt) oder Ezra Pounds Slogan "Make it New" oder an bestimmte Ideen aus der sogenannten Wirkungsästhetik/Rezeptionsästhetik von Wolfgang Iser (mit seiner Theorie der literarischen Leerstelle). Kurz: Bloom schließt damit an bestehende Forschung an.

Nach Bloom ist also das Beste das Fremde, das Erwartungen-durchbrechende. Erwartungen werden durch Bekanntes geformt. Beispiel: Die Geschichte der Literatur ist voller Morde, schon in der griechischen Antike. Aber erst eine ganz bestimmte, neue, bis dato fremde Konfiguration von Mordgeschichte hat im Jahr 1841 das Krimi-Genre entstehen lassen (E.A. Poe, "The Murders in the Rue Morgue"). Das war ungewöhnlich und fremd. Soweit so gut. Aber zurück zur Bloom'schen Ausgangsfrage: War es auch erhaben? Denn das muss Poes Geschichte ja sein, damit ihr kanonischer Wert zukommt. Was ist nach Bloom der missing link, der vom Ungewöhnlichen zum Außergewöhnlichen führt? Ja, genau, Ihr habt's erraten... das definiert er nicht eindeutig. Auch Blooms vielversprechende Arbeitsdefinition, die zugegeben nicht ohne einen gewissen Nutzen ist, bleibt eine letztgültige Antwort schuldig. 

Warum also beziehen sich die Befürworter des Kanons auf das Kriterium von "Größe", wenn sie nicht in der Lage sind, diese eindeutig zu definieren? Ich habe keine verbindliche Antwort auf diese Frage, aber die sehr starke Vermutung, dass die Kenntnis bestimmter Werke mehr "kulturelles Kapital" abwirft, wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu das nennt. Vielleicht gerade weil diese Werke auch heute noch immer (oder: inzwischen wieder) eine Fremdheit, strangeness, haben, die die Lektüre so dornig macht (siehe obiges Zitat von Mark Twain); daher scheint das Gelesenhaben dieser Werke von Beharrlichkeit und Lustverzicht und Impulskontrolle zu zeugen - und damit einen Belohnungsaufschub zu versprechen. 

Ihr kennt das berühmte Experiment, bei dem man einem Kind einen Marshmallow gibt und ihm sagt, es könne diesen sofort essen oder warten; wenn es eine Viertelstunde wartet, bekommt es zur Belohnung zwei Marshmallows statt nur einen. So wäre es dann mit kanonischer Literatur. Wer jetzt sein Bedürfnis nach Unterhaltung unterdrückt und statt Perry Rhodan lieber Shakespeare liest, bekommt später dafür mehr Punkte auf sein virtuelles "kulturelles Kapital"-Konto eingezahlt, die ihm größere Vorteile verschaffen. Ist "das Beste" vielleicht am Ende einfach nur "das Vorteilhafteste"? 

Drittes Alltagsverständnis von "dem" Kanon: Er ist einfach da (oder Marcel Reich-Ranicki hat ihn "gemacht")

"Nobel Prize" by C.K. Koay
(CC BY-NC 2.0)
Nach den bisherigen ausführlichen Überlegungen, nun abschließend eine kurze, dritte Form von Alltagsverständnis: Er ist einfach da. Zwar verbinden wir manchmal prominente Namen oder Institutionen mit dem Kanon, etwa Marcel Reich-Ranicki oder die Nobelpreisliste oder jeden beliebigen großen Literaturpreis (Booker Prize, Prix Goncourt, Hugo Award etc.). Aber welche kanonisierende Wirkung haben diese Listen überhaupt? Meine Antwort: Eine sehr geringe. Blickt man auf die Liste der Nobelpreise für Literatur tauchen darauf Namen auf, die heute vermutlich nur noch einem kleinen Fachpublikum bekannt sein dürften. Beispiele gefällig? Gerne: Sully Prudhomme, José Echegaray, Giosuè Carducci, Rudolf Eucken, Verner von Heidenstam, Karl Gjellerup, Jacinto Benavente, Władysław Reymont, Grazia Deledda, Erik Axel Karlfeldt... die haben alle den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, wenn Du von diesen zehn auch nur drei kennst bzw. gar gelesen hast! 

Wenn diese wichtigen und vieldiskutierten Preise aber praktisch keine Auswirkung darauf haben, was in "den" Kanon kommt, wer macht ihn dann? Ein Kritiker, und sei er noch so bedeutend und einflussreich wie Reich-Ranicki hierzulande, schafft das auch nicht. Klar weiß man, dass die Verkaufszahlen der Bücher, die im Literarischen Quartett besprochen werden, am nächsten Tag sprunghaft in die Höhe gehen. Aber ich könnte auch eine vergleichsweise junge Folge dieser Sendung wählen und wahllos besprochene Werke davon nennen, mit dem gleichen Effekt, wie das kleine Nobelpreis-Spiel: Die wenigsten davon wären heute einem breiten Publikum bekannt. Der Effekt solcher Sendungen ist Marketing: Sie generieren Aufmerksamkeit. Ein kostbares Gut, ohne Frage. Aber eben auch kurzlebig. 

Wenn Kritiker*innen und Literaturpreise so geringen Einfluss auf die Kanonisierung haben, wer, zum Henker, entscheidet denn nun, was in "den" Kanon kommt? Meine kurze Antwort: Wir. Durch unsere Institutionen. Schulen, Seminare, Feuilletons uvm. Zusammengenommen formen sie ein Netz, das Werke im Hier und Jetzt hält (fachsprachlich: Kanonisierung). Manche fallen irgendwann durch die Maschen (fachsprachlich: Dekanonisierung), andere werden später wieder mit der Angel einzeln aus dem Meer der Bücher gefischt (fachsprachlich: Rekanonisierung). 

Nun hat es in der Literaturdidaktik aber schon vor einiger Zeit einen Trend gegeben: Weg vom Kanon, hin zur Kompetenz. Man wird beispielsweise in den Rahmenlehrplänen des Landes Berlin-Brandenburg vergeblich nach vorgegebenen Lektüren wie Faust, Effi Briest oder Macbeth suchen. Und Lehrkräfte könnten theoretisch diese Werke in ihrem Unterricht durch beliebige andere ersetzen. Dass sie es eher selten tun (zugegeben: ich habe hierfür keine belastbaren Zahlen), zeigt, dass sie Teil dieses Netzes sind, das ich beschrieb: Denn die Verlage veröffentlichen "didaktisierte" Versionen dieser Texte, mit Übungsaufgaben und ausdruckbaren Handreichungen für Schüler*innen. Das erleichtert Lehrkräften die Arbeit ungemein, weshalb sie lieber auf bereits Bestehendes zurückgreifen, als sich auf eigene Faust auf das große Meer hinauszubegeben. Und da ganze Schulklassen regelmäßig Faust lesen, lohnt es sich für Theater in kleineren Städten (also solche, die nicht, wie die Münchner Kammerspiele oder die Berliner Schaubühne quasi Vollauslastung haben), regelmäßig Klassiker wie Faust auf dem Spielplan zu haben. Verkauft mehr Tickets. Netzeffekt. 

Daran ist nichts Schlimmes. Aber es zeigt, dass der Kanon etwas Gemachtes ist, nichts Natürliches. Es zeigt, dass das "Machen" des Kanons bestimmten gesellschaftlichen Bedürfnissen gehorcht, die sich nicht in Literaturpreisen oder Kritiker*innen-Meinungen erschöpfen, sondern ein großes, gesamtgesellschaftliches Netz voraussetzen, das bestimmte "Kanonisierungseffekte" hat. 

Das Wichtigste aus dieser Erkenntnis: Wer einen anderen Kanon will, will eigentlich eine andere Gesellschaft. 

Der Kanon ist der Kanon

Nachdem wir uns diese drei Alltagsmeinungen zum Kanon näher angesehen und damit geklärt haben, was der Kanon alles nicht ist... was ist er denn nun? Anders formuliert: Wenn "das Kanonische" also nicht etwas ist, was den Werken ewig innewohnt, was ist es dann? Hier noch einmal Gadamer: 

Das erste also an dem Begriff des "Klassischen" (und das entspricht auch ganz dem antiken wie dem neuzeitlichen Sprachgebrauch) ist der normative Sinn. (Wahrheit und Methode, 6. Aufl., 1990: 293).

Normative Sätze beschreiben nicht wie etwas ist, sondern wie etwas sein soll/sein muss. Und zwar, indem sie eine Norm zu Grunde liegen. Daher sind normative Sätze nicht überprüfbar - anders als ihr Gegenpart, die sogenannten deskriptiven Sätze. Ein deskriptiver Satz wie "Shakespeares Hamlet ist 30.557 Wörter lang" lässt sich überprüfen (durch Zählen). Ein normativer Satz wie "Als ein über 400 Jahre altes Werk, das immer noch gelesen/aufgeführt wird, muss Hamlet gut sein" lässt sich nicht überprüfen; zwar kann ich das Alter überprüfen und anhand von Auflagenzahlen, Verfilmungen, Theateraufführungen etc. überprüfen, ob Hamlet wirklich noch so stark rezipiert wird, wie die Aussage behauptet (siehe meine Bemerkungen zum Netzeffekt). Aber ob daraus dann folgt, dass das Stück einfach gut sein muss, ist ein (relativ schwaches) normatives Argument, das nur bedingt auf allgemeine Zustimmung hoffen darf. 

Aber Moment mal! Heißt das, dass es überhaupt keine Kriterien gibt, gute von schlechter Literatur zu unterscheiden? Jein, nur bedingt. Es gibt Kriterien, die man häufig findet, was Literatur "gut" macht und es ließe sich argumentieren, dass je mehr solcher Kriterien erfüllt sind, desto "besser" das Buch ist. Aber natürlich sind das keine Naturgesetze, sondern Übereinkünfte und breit akzeptierte Meinungen (siehe obige Ausführungen zum Netzeffekt). 

Um nur ein Beispiel zu nennen: Der berühmte Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt hat einmal von Shakespeares "strategic opacity" gesprochen, also einer Art gezielter, strategischer Undurchsichtigkeit (Greenblatt 2004). Niemand kann sagen, warum König Lear am Anfang der Tragödie seine drei Töchter einer "Liebesprobe" unterzieht; oder warum Iago seinen Dienstherrn Othello so hasst. Diese Fragen sind laut Greenblatt weniger "a riddle to be solved", sondern Prinzip von Shakespeares "strategic opacity" (weniger ein "zu lösendes Rätsel", als "Shakespeares strategische Undurchsichtigkeit"). Diese Undurchsichtigkeit wiederum "released an enormous energy that had been at least partially blocked or contained by familiar, reassuring explanations" (Greenblatt 2004: Sie "setzte eine enorme Energie frei, die bislang von bekannten, selbstversichernden Erklärungen teilweise blockiert oder eingehegt worden war"). Das letzte ("familiar, reassuring") klingt wieder leicht nach Harold Bloom (oder Pound/Brecht/Schklowski/Iser). Daraus lässt sich zwar keine normative oder gar präskriptive Literaturtheorie ableiten (etwa: "Literatur muss besonders fremd sein"), aber zumindest scheinen viele heutige wie frühere Leser*innen eine Bevormundung durch Literatur, die einem alles bis ins letzte Detail erklärt, eher abzulehnen und ein gewisses Maß an Unklarheit, Undurchsichtigkeit, an Fremdheit zu wünschen. Shakespeare wäre nach diesem Maßstab eben deshalb so gut, weil er mehr Fragen stellt, als beantwortet und damit das Publikum auffordert: Macht Euch Euren eigenen Reim drauf! 

Wohlgemerkt ist das aber kein Lackmustest für gute vs. schlechte Literatur, sondern höchstens eine statistisch nachweisbare Tendenz bei Lesepräferenzen. Sie lässt sich allerdings recht gut in die obigen Überlegungen integrieren, dass die Lebendigkeit von "Klassikern" in ihrer Fähigkeit liegt, mit den Lesenden in einen Dialog zu treten, sie zu fragen: "Was denkst Du?" Das ist etwas anderes, als den Lesenden zu sagen: "Hier, das sollst Du denken!" Lesende sind ja eben doch schlauer, als sich manche Autor*innen das denken; Lesende können für sich denken; Lesende wollen das sogar. Je "strategisch undurchsichtiger" ein Text, desto mehr Antworten wird er provozieren, was Teil seiner Lebendigkeit ist. 

Der Kanon ist das Lebendige! (klingt nach Glückskeksspruch, geht aber logisch aus der bisherigen Argumentation hervor).

Schlussbemerkungen, oder: Warum dieser Artikel?

Warum dieser Artikel auf einem Rollenspielblog? 

Erstens glaube ich, dass ein Interesse in der Community an diesen Fragen besteht und dass diese Fragen immer wieder intensiv in der Community diskutiert werden. Ist Fantasy-Literatur oder Science Fiction nur "Literatur zweiter Klasse", wie manche behaupten? (Spoiler: Nein, ist sie nicht). Ist ein Roman von, sagen wir, N.K. Jemisin letztlich "schlechter" als einer von Dostojewski? Viel Spaß beim Definieren, was mit "besser" und "schlechter" genau gemeint ist, ich hole schon mal das Popcorn. Vor allem lässt sich nicht beweisen, dass bestimmte Konfigurationen in der Literatur "besser" sind als andere (zugegeben bin ich hier inzwischen nicht mehr ganz auf dem Stand der Forschung; mein früherer Professur an der FU Berlin, Winfried Menninghaus, hat vor zehn Jahren das Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt gegründet, seitdem habe ich ihn und die betreffende Forschung aus dem Blick verloren, korrigiert mich gerne, wenn Ihr mehr wisst). Wir können Tendenzen angeben, dass ein gewisses Maß (nicht zu viel, nicht zu wenig, vermute ich) an Leerstellen, an strategischer Undurchsichtigkeit (s.o.) in einem Text oft als "besser" empfunden wird (abhängig von der Lesesozialisation und einem Haufen anderer Faktoren natürlich); diese Texte verlangen, dass die Lesenden aktiv werden, etwas tun müssen, Verbindungen selbst herstellen müssen, die der Text ihnen nicht ausbuchstabiert. Texte, die einem zu eindeutig diktieren, wie sie verstanden sein wollen, werden manchmal als "weniger gut" empfunden. 

Auch eine Harmonie von Form und Inhalt wird oft als Kriterium für "gute Literatur" angeführt. Wieder gilt: Klingt erstmal überzeugend. Denn ein Buch, das ein spannendes Thema "schlecht" präsentiert wird vermutlich ebenso wenig als gut empfunden werden, wie eins über ein total langweiliges Thema, das formal aufregend ist. Und dennoch, wie oben ausführlich diskutiert, sind das eben keine Naturgesetze, sondern Präferenzen realer Leser*innen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext lesen (und eben auch mit bestimmten Lusterwartungen oder Gewinnabsichten, siehe Bourdieu). Es ist daher reine Unkenntnis, diese (klug und gebildet klingenden) Argumente als einzige Maßstäbe zur Bewertung von Literatur zu präsentieren - und so den Stab zu brechen über bestimmte Bücher, die einem nicht in den Kram passen. Mich langweilen diese Torhüter-Männer (sic!) zu Tode, die meinen, sie und ihr Zirkel an anderen Gatekeepern hätten den archimedischen Punkt der Literaturbewertung gepachtet. Ihr habt lediglich Inflationsangst, sorgt Euch um Euer mühsam erlesenes kulturelles Kapital... aber dann hättet Ihr, Mark Twain gemäß, ohnehin nie Eure mühevollen Stunden mit Dante, mit Brontë, mit Woolf genossen. Tja, das ist jetzt einfach scheiße gelaufen für Euch.

Zweitens glaube ich, dass viele von uns eine Art game shame empfinden, das ungute Gefühl, dass man Rollenspiel-Bücher liest oder Fantasy-Romane, während man doch in der gleichen Zeit auch Krieg und Frieden lesen oder eine neue Fremdsprache oder ein Instrument lernen könnte usw. Exemplarisch für diese Scham sei hier das flammende Plädoyer von Christian Schmidt vom Stay Forever-Podcast angeführt, das er nur deswegen hält, weil es diese Scham gibt und weil sie so stark ist (Stay Forever, Folge 73, ab 1:57:16: "Lasst Euch von niemandem da draußen einreden, dass Spielen Zeitverschwendung wäre!"). Wir verschwenden nicht unsere Zeit, nur weil wir gerade nicht Virginia Woolf, Marcel Proust oder den alten Goethe lesen. Als Literaturwissenschaftler, der sich fast ausschließlich mit sogenannten "kanonischen" Autor*innen befasst, kann ich sagen, dass sie großen Spaß machen können und empfehle gerne Texte aus "dem Kanon" weiter. Aber: 

Wir lesen, was wir gerne lesen, gerne und sollten das ohne Scham tun. 

Und damit komme ich zum Beginn dieses Artikels zurück, dem Zitat aus meinem 12 Jahre alten Blogpost, dass der "Kanon weniger etwas darüber aus[sagt], welche Bücher lesenswert sind und welche nicht. Ein Kanon sagt vielmehr etwas über den aus, der ihn geschrieben hat." Wir wissen nun allerdings, dass niemand allein "den" Kanon schreibt (tut mir leid, Jungs). Dennoch scheint der Wunsch ungebrochen zu bestehen, an irgendeiner Schlüsselstelle des gesellschaftlichen Netzes stark genug einzuwirken, um die Kanonisierung bestimmter Werke oder die Dekanonisierung anderer zu verhindern. Dahinter können sich egoistische Motive verbergen (Sicherung von kulturellem Kapital) oder gesellschaftliche (Veränderung von Gesellschaft durch und mit Literatur) - und diese Motive lassen sich ganz gut an dem jeweils vorgeschlagenen Kanon ablesen. 

Im Grunde aber, so will mir scheinen, sind Kanon-Debatten nur Stellvertreter für Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene. Und in diesen Konflikten ist der Kanon eben auch: eine Kanone.

Zitierte Literatur / Weiterführende Quellen

  • Arnold, Matthew. Culture and Anarchy: An Essay in Political and Social Criticism. 1869. Hrsg. v. Jane Garnett. Oxford: Oxford University Press, 2006.
  • Bloom, Harold. The Western Canon
  • Eagleton, Terry. Literary Theory: An Introduction. 2nd ed. Blackwell, 2004.
  • Eliot, T.S. What is a Classic? London: Faber & Faber, 1944.
  • Gadamer, Hans-Georg. Wahrheit und Methode
  • Greenblatt, Stephen. Will in the World. How Shakespeare Became Shakespeare. New York: Norton, 2004.
  • Kronshage, Eike. "Was ist ein literarischer Kanon? Zur Kanonisierung und Kanonbildung." Literaturen.net. 30.8.2009.
  • Kronshage, Eike. "Theorien des Nichtlesens." In: Grundthemen der Literaturwissenschaft. Lesen. Hrsg. v. Alexander Honold und Rolf Parr. Boston: De Gruyter, 2018: S. 211-230.
  • Kronshage, Eike. "Nah, fern, skalierbar: Die Politik des Lesens von Kanon und Quisquilie." In:  SPRACHKUNST. Beiträge zur Literaturwissenschaft 50.1 (2019): S. 95-113.
  • Marx, Karl. Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie (1857-58). MEW 13. 
  • Twain, Mark. "The Disappearance of Literature." 1900. 

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