Mittwoch, 22. September 2021

Krimi und Rollenspiel, oder: Der Mörder war... irgendwer


Ich durfte für System Matters das PbtA-Spiel Brindlewood Bay von Jason Cordova ins Deutsche übersetzen. Das Spiel befindet sich aktuell (Stand: September 2021) im Layout und wird in Kürze "als gebundene Ausgabe [im] typischen pbta-Format (17×24 cm)" erscheinen (siehe hier). Wer es bis zum Erscheinen der deutschen Übersetzung von Brindlewood Bay nicht mehr abwarten kann, kann auf DriveThruRPG das englischsprachige PDF für $10.00 kaufen. Ferner kann ich sehr empfehlen, die komplett deutschsprachige Veröffentlichung der Kriminalfälle für Brindlewood Bay (also sozusagen die "Abenteuer" bzw. die "Abenteuermodule"), die bei der 3W6 Game Jam erstellt wurden, hier herunterzuladen (als Pay What You Want; solltet Ihr ein paar Euro übrig haben, sollen diese, laut den Jam-Organisator*innen, für eine mögliche Übersetzung ins Englische verwendet werden). Die Game Jam durfte dank freundlicher Genehmigung von System Matters bereits vor der Veröffentlichung von Brindlewood Bay Teile der Übersetzung verwenden, so dass die dort benutzten Regelbegriffe 100% kompatibel mit dem in Kürze erscheinenden Band von System Matters sind.


Ich fange diesen Post über Krimi im Rollenspiel deshalb mit Brindlewood Bay an, weil es ein zentraler Bezugspunkt für meine Überlegungen ist und weil ich glaube, dass es diesem Spiel wie nur wenigen anderen gelungen ist, ein zentrales Problem von Kriminalfall und Rollenspiel zu lösen (ein anderes gutes Beispiel ist das ebenfalls bei System Matters erschienene Etwas zu verbergen, wie auch in dieser 3W6-Podcastfolge erläutert wird).

Krimis top, Rollenspielkrimis flop? Oder: Findet den Zigarettenstummel

Ich liebe Krimis. Besonders klassische Whodunits und besonders die aus der sog. "Goldenen Ära des Krimis", also Agatha Christie und Co. Ich habe die schon geliebt, seit ich denken kann. Anfangs als Hörspiel und Film, später, als ich lesen lernte, auch in Buchform. Und Fantasy/Sci-Fi/Magie mit Krimi zu verbinden, funktioniert auch ganz hervorragend, wie der jüngste Roman von Judith und Christian Vogt, Anarchie Déco, beweist. Was lag näher, als diese Leidenschaft mit meiner anderen großen Leidenschaft, dem Rollenspiel, zu verbinden? 

Tja... leider hat sich das Krimi-Genre als nur bedingt rollenspieltauglich erwiesen. Das hängt damit zusammen, dass es viel Railroading erfordert; d.h. die Charaktere müssen in der Regel die Indizien finden, damit es ihnen gelingt, die Übeltäter*innen zu überführen. Klar, so funktionieren Whodunits nun mal. Am Spieltisch hat das oft folgende Form:

Spieler*in 1: Ich suche den Tatort nach Spuren ab.

Spielleitung: Dann würfle mal auf Wahrnehmung.

Spieler*in 1: *würfelt* Ah, leider misslungen.

Spielleitung: Ähm ja, also Du findest nichts. Nun... vielleicht kann jemand anderes mal sein Glück versuchen?

Spieler*in 2: Ja, ok. Dann schaue ich mal, ob ich was finde. *würfelt Wahrnehmung*. Ja, geschafft.

Spielleitung (erleichtert): Ah, schön. Also, Du findest hinter den Büschen eine Zigarettenkippe, die dort eigentlich nicht sein dürfte. Eine seltene ägyptische Marke, wie sie nur Lord Vandermeer raucht!

Spieler*in 2: Prima, dann gehen wir jetzt zum Lord und konfrontieren ihn mit unserem Fund...

Dieses Beispiel (das ich so oder in ähnlicher Form ein Dutzend Mal am Spieltisch erlebt habe, mal spielend, mal leitend) zeigt recht deutlich, dass der Übergang von einer zur nächsten Szene erfordert, dass man einen Hinweis findet. 

"A plaque for the 
Agatha Christie
mile at Torre Abbey in
Torquay" by Violetriga
(CC BY-SA 3.0)


Wie soll man Lord Vandermeer beschuldigen, wenn man nicht den verräterischen Zigarettenstummel am Tatort findet? Das Finden der Kippe erfordert aber einen erfolgreichen Wurf auf Wahrnehmung/Sinnenschärfe oder wie das im benutzten System (DSA, DnD, Cthulhu...) gerade heißt. Die Krux dabei ist aber, dass dieser Wurf auf keinen Fall misslingen darf, da sonst das Spiel nicht weiterkommt. Hier erlaube ich mir aus Moritz Mehlems Essay "Hört doch endlich auf, eure Spieler zu bescheißen!" zu zitieren: "Warum sollte ich würfeln, wenn das Ergebnis der Aktion ohnehin feststeht?" (Handbücher des Drachen II, S. 58). Eben! Es gibt wirklich exakt keinen Grund dafür. Wenn die Charaktere den Hinweis finden müssen, dann tun sie das. Ohne Würfeln. Wenn die Würfel in die Hand genommen werden, dann muss die Möglichkeit bestehen, dass ein ungünstiges Ergebnis gewürfelt wird. Aber was, wenn das ungünstige Ergebnis bedeutet, dass der Plot steckenbleibt? 

Es erfordert Improvisationstalent oder gute Vorbereitung durch die SL, damit nicht aus dem Nichtfinden des Zigarettenstummels das Nichtweitergehen des Abenteuers resultiert. Die SL muss sich halt so viele mögliche  alternative Indizien ausdenken, bis es den Charakteren irgendwann gelingt, eins davon zu finden und damit Lord Vandermeer zu überführen. Aber dann sind doch die Hinweise... beliebig?

So und nicht anders: Radikale Beliebigkeit

Und genau hier setzt Brindlewood Bay mit seiner cleveren Hinweis-Mechanik an, um dieses Problem elegant zu lösen. Die Beliebigkeit wird zum Spielprinzip erhoben. Und zwar so radikal, dass niemand, die SL einbezogen, bis zum Ende weiß, wer das Verbrechen begangen hat. Es kann ebenso gut der Butler, wie die Ärztin, wie die erbende Nichte, wie der Chauffeur, wie die Geschäftspartnerin gewesen sein. Niemand weiß es. Auch nicht die SL. 

Und das ist übrigens voll im Einklang mit dem klassischen Setup eines Kriminalromans, wie etwa Agatha Christies And Then There Were None (dt. Und dann gab's keines mehr) Am Anfang sind alle gleich verdächtig. Nach und nach deuten die Indizien in eine bestimmte Richtung (oder besser: scheinen in diese Richtung zu deuten). Es ist ja gerade das große Vergnügen beim Lesen eines Whodunit-Krimis, nicht zu wissen, wer es getan hat, sondern überrascht zu werden. So wie wir auch eine Zaubershow mehr genießen, wenn es der*dem Zauber*in gelingt, uns zu überraschen. Wissen wir von Beginn an, wie der Trick funktioniert, können wir die Zaubershow nicht so sehr genießen. 

Es ist daher ganz nachvollziehbar, dass nichts zu Beginn eines Krimis feststeht. 

Ein Brindlewood Bay-Fall legt nur Mord und Opfer fest und gibt dann, in klassischer Agatha Christie-Manier, ein Ensemble von Verdächtigen vor, ohne zu entscheiden, wer von denen den Mord begangen hat. Dazu kommt eine Liste mit ca. 20 Hinweisen. Diese sind weder an einen Ort gebunden, noch an eine Person. Im obigen Beispiel könnte das Nichtfinden des Zigarettenstummels also schlicht bedeuten, dass keiner da ist. Er muss es ja auch gar nicht: Denn das Spiel ist ja nicht drauf ausgelegt, dass alle Indizien auf Lord Vandermeer deuten (zur Erinnerung: niemand weiß ja, ob der alte Lord der Mörder ist, auch die SL nicht!). Ebenso gut kann der Stummel an einem anderen Ort gefunden werden, wo er vielleicht eher auf den heimlichen Geliebten des Lords, Sir Alfred, als Täter hinweist. 

Die PbtA-Mechanik sorgt ferner dafür, dass es keinen Moment gibt, an dem das Spiel jemals steckenbleibt. Denn das Nichtfinden des Hinweises ist ja auf dem Würfel eine 6-. Und die bedeutet ja in der Regel, dass das Spiel eine sehr entscheidende Wendung nehmen kann, es mit anderen Worten auf jeden Fall weitergeht - nur eben nicht wie von den Charakteren erhofft. Vielleicht bemerkt der Mörder das Rumschnüffeln der alten Dame und schlägt sie hinterrücks bewusstlos? Oder eine weitere Leiche taucht auf, ausgerechnet von der Person, die bislang als Hauptverdächtige galt usw. 

Zurück zu Moritz' rhetorischer Frage: "Warum sollte ich würfeln, wenn das Ergebnis der Aktion ohnehin feststeht?" Dass in Brindlewood Bay viel und gern gewürfelt wird, liegt nicht nur an der schlichten PbtA-Würfelmechanik, sondern auch daran, dass hier zunächst überhaupt nichts feststeht. Die Würfel erzählen die Geschichte, nicht die SL. Letztere würfelt bei PbtA bekanntlich nicht einmal mit. 

Wo nichts feststeht, ist alles spannend. 

Ich habe in den vergangenen zwei Jahren kein Spiel so oft geleitet wie Brindlewood Bay. Ich halte es für eins der besten PbtA-Spiele der letzten Jahre. Es macht mechanisch alles richtig, um Krimi und Rollenspiel zusammenzubringen. Ganz nebenbei führt es als m.W. erstes Rollenspiel liebenswürdige alte Damen als Charaktere ein. Zudem bringt es einen Cthulhu-artigen Mythos mit hinein, der die einzelnen Kriminalfälle elegant verbindet und der dafür sorgt, dass der heiter-beschwingte Tonfall der ersten Sitzungen, in denen die alten Damen beim Rumschnüffeln nebenbei noch munter ihre Kuchenrezepte austauschen, zusehends einer düster-bedrohlichen Atmosphäre weicht. Die Eleganz, mit der Brindlewood Bay all das hinbekommt ist wirklich erstaunlich. 

Wie aber ist nun die Erfahrung am Spieltisch, wenn alle Spielenden inkl. SL wissen, dass es "ein bisschen egal ist, wer der Mörder ist" (wörtliches Zitat von einem Spieler aus einer meiner Runden vor Beginn des Spiels). 

Ich kann aus etwa 30 Runden Brindlewood Bay, die ich in jüngerer Zeit geleitet oder gespielt habe berichten, dass alle am Tisch am Ende einer Sitzung immer begeistert waren, dass es "ein bisschen egal war, wer der Mörder war". Denn ein klassischer, gut geskripteter Kriminalplot ringt uns Erstaunen ab, weil er so elegant und überraschend und unvorhersehbar ist. Ein solcher Plot braucht aber gute Autor*innen, die ihn vorher schreiben (und beim Rollenspiel: SLs, die ihn so schreiben, dass er flexibel genug ist, um trotz/wegen der unvorhergesehenen Handlungen der Charaktere zu funktionieren). Haben wir einen solchen Plot am Tisch erlebt, klatschen wir der SL zu, die sich fraglos viel Mühe gemacht hat. Wenn das klappt (und ich kenne solche akribisch vorbereitenden SLs), dann ist das für alle ein Erlebnis.

Aber: Es stellt extrem viele Herausforderungen an die SL. Die muss Zeit haben, Lust haben, Fähigkeiten haben, Weitblick haben... um all das zum Gelingen zu bringen. Das ist mit ein, zwei Stunden Vorbereitung nicht getan. Hier reden wir vermutlich von Tagen. Habt Ihr so viel Zeit? Echt jetzt? Ich beneide Euch! 

"Und der Mörder war..." *würfelt* "... der Gärtner!"

Seid Ihr mehr so wie ich und bereitet Euch dadurch aufs Leiten vor, dass Ihr fünf Minuten vor Sitzungsbeginn mal schnell auf Eure spärlichen Notizen blickt, dann werdet Ihr Brindlewood Bay lieben. Denn das genügt für dieses Spiel. Die Last wird hier nämlich nach klassischer PbtA-Manier auf alle Schultern verteilt: Spielende, SL und, ja, auch die Würfel. Die Geschichte wird gemeinsam erzählt, der Fall gemeinsam gelöst.

Tatsächlich ist es am Ende Aufgabe aller am Tisch sitzenden Personen, den Fall zu lösen, indem sie eine "Theorie aufstellen" (so der Name des Spielzugs), die alle Hinweise zu einer kohärenten Geschichte verbindet. Je mehr Hinweise in diese Theorie eingeflochten werden, desto besser die Chancen beim abschließenden Würfelwurf, dass sie stimmt. Richtig gelesen: Die Würfel entscheiden am Ende, ob die Theorie richtig war ("Sir Alfred war's, aus Eifersucht, mit dem Kerzenleuchter, im Speisezimmer"). Es gibt null Railroading - und genau deshalb ist es spannend. Weil nichts feststeht, ist das gemeinsame Erzählen ein schrittweises Feststellen (im doppelten Wortsinn). 

Das Rekonstruieren und das Konstruieren des Tathergangs fallen bei Brindlewood Bay zusammen. Das ist die Lösung auf das eingangs beschriebene Problem von Kriminalfällen im Rollenspiel. Es macht Brindlewood Bay zu einem ganz besonderen Spiel. Und ich würde behaupten, es wird auch die begeistern, die von sich behaupten, eigentlich keine Krimis zu mögen. Einfach, weil die Mechaniken so elegant sind, die Charaktere so einzigartig, der Mythos so düster... 

Wenn Ihr es noch nicht kennt, freut Euch auf die deutsche Fassung, sie wird bald erscheinen. Es hat für Euch ein zentrales Problem von Krimis am Rollenspieltisch gelöst, damit Ihr bald viele Kriminalfälle lösen könnt.

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