Mittwoch, 22. Juli 2020

Beschreibungen im Rollenspiel und warum ich sie nicht mag

Ich möchte in diesem Artikel erläutern, weshalb ich detaillierte Beschreibungen aus meinem Rollenspiel gestrichen habe - und das, obwohl ich mich schon immer sehr für Beschreibungen interessiert habe. Ich habe sogar ein Buch über Beschreibungen geschrieben - konkret über Beschreibungen im Roman des 19. Jahrhunderts, der Epoche also, die berüchtigt für ihre endlos langen Beschreibungen von Interieurs, Gesichtern, Kleidern, Straßenzügen, Landschaften usw. war. 


Auslöser für mein Interesse war, dass ich diese Beschreibungen lange Zeit gehasst habe. Aus zwei Gründen. Einerseits, weil stie die Handlung, den Plot unterbrechen und ich, bevor ich professioneller Literaturwissenschaftler wurde, primär an der Handlung eines Romans interessiert war. Andererseits, weil ich mir schlicht nichts darunter vorstellen konnte, weil ich keine Bilder vor meinem geistigen Auge sah.


Aphantasie 

Dieses fehlende oder eingeschränkte bildliche Vorstellungsvermögen nennt man Aphantasie. Im Englischen gibt es einen Slogan, der das reimend auf den Punkt bringt: "Blind in one's mind". Es gibt einen Aphantasia Awareness Day, den 18. August.  Erforscht ist das Phänomen jedoch kaum, wenngleich vermutet wird, dass es sehr selten ist, dass Menschen überhaupt keine Bilder vor ihrem geistigen Auge sehen (1-3% sagen Schätzungen). Anders ist es mit der Lebhaftigkeit der Bilder. "Stell Dir einen Apfel vor!" werden die meisten noch gerade hinbekommen und vor ihrem geistigen Auge ein apfelförmiges Objekt "sehen". Aber ist der Apfel grün oder rot? Ist seine Färbung gleichmäßig? Hängt noch etwas vom Ast des Baumes dran? Ist er gleichmäßig geformt oder uneben? Klein oder groß? Perfekt oder wurmstichig? Wirkt seine Schale matt oder glänzend? Hier werden viele eher mit den Schultern zucken; so genau hat man ihn dann doch nicht "gesehen".



In der Antike nannte man dieses Vorstellungsvermögen vis imaginationis, was später als Einbildungskraft eingedeutscht wurde. Wie man sich den Apfel einverleiben kann, so kann man ihn sich auch einbilden, sein Bild vor das geistige Auge führen, ihn in Gedanken anschauen, betasten, riechen, schmecken und das herrliche "Knack"-Geräusch hören, wenn man hineinbeißt - man macht den Apfel auf diese Weise zu etwas Eigenem. Oder eben auch nicht, wenn man diese "Kraft" der Einbildung nicht hat bzw. sie nicht besonders stark ausgeprägt ist.


Literarische Beschreibungen

Das Apfel-Beispiel stellt eine Aufforderung zur Ein-Bildung dar, die ohne große Imaginationsreize auskommt. Steht in einem Roman so etwas wie "Der Junge hatte eine Fellmütze auf dem Kopf" können wir diese verbalen Zeichen in visuelle übersetzen und, wie zuvor bei dem Vorstellen eines Apfels, ein grob mützenhaftes Gebilde imaginieren. Was aber, wenn der Text die Mütze mit vielen Details beschreibt (der Fachbegriff lautet Ekphrasis):

Es war eine jener vielgestaltigen Kopfbedeckungen, die etwas von einer Pelzmütze, einer Tschapka, einem Filzhut, einer Otterfellmütze und einer Zipfelkappe haben, kurz, so ein armseliges Ding, dessen stumme Hässlichkeit Tiefen des Ausdrucks hat wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und über Fischbein gespannt, setzte sie mit drei kreisrunden Wülsten an; ihnen folgten, durch rote Bänder getrennt, abwechseln Rauten aus Samt und aus Kaninchenfell; dann kam eine Art Sack, der in einem vieleckigen, mit einem komplizierten Litzenbesatz versehenen Pappkarton endete, von dem an einer langen, zu dünnen Kordel eine kleine Quaste aus Goldfäden herabhing. Die Mütze war neu; der Schirm glänzte. (Gustave Flaubert, Madame Bovary, S. 10)

Diese Beschreibung besteht aus genau 100 Wörtern und ist damit zunächst einmal viel detaillierter als es das eine Wort "Fellmütze" sein kann. Man könnte denken, dass diese Details bei der Vorstellung helfen und das Ergebnis ein deutlicheres Bild sein wird, als bei nur einem einzigen Wort. Jedoch stellt das Imaginieren dieser Mütze die Leser*innen vor verschiedene Herausforderungen. Sie müssen z.B.:  


  • sich die Details einzeln "vor Augen führen" (rhetorische Accumulatio)
  • die einzelnen Details der Mütze zu einem Ganzem zusammenfügen;
  • die im literarischen Text nacheinander präsentierten sprachlichen Zeichen zu einem Bild formen, das gleichzeitig und auf einen Blick betrachtet werden kann (Lessing unterschied daher zwischen der Literatur als Zeit- und der Malerei als Raumkunst)
  • bestimmte textile termini technici kennen und übersetzen können (was ist eine Tschapka, was ein Litzenbesatz?);
  • gewisse imaginative Entscheidungen treffen, etwa wenn es darum geht, im ersten Satz zu entscheiden, wie viel von einer Pelzmütze und wie viel von einer Otterfellmütze und wie viel von einer Tschapka diese Mütze enthält;
  • am Ende der Beschreibung noch die Details von ihrem Anfang erinnern (was auf Grund der sog. Ebbinghaus'schen Vergessenskurve bekannterweise nicht einfach ist)
  • bestimmte rhetorische Stilmittel entschlüsseln, wie etwa
    • der Vergleich mit dem "Gesicht eines Idioten" oder
    • die Verbindung der unterschiedlichen sensorischen Daten bei "stumme Hässlichkeit" (Synästhesie)
  • entscheiden, wie wertende Begriffe (armselig, hässlich, zu dünn) in das Bild zu übersetzen sind;
  • die durch den literarischen Text suggerierte Perspektive (wer sieht hier eigentlich?) berücksichtigen…

 

Führt man diese Schritte systematisch durch, hat man zwar eine hervorragende literaturwissenschaftliche (d.h. semantische, semiotische, rhetorische, narrative usw.) Analyse erstellt, die das Gesamtverständnis des Textes maßgeblich beeinflussen wird, aber hat man dadurch vor seinem geistigen Auge ein klares (oder gar klareres) Bild der Mütze gewonnen? Ich für meinen Teil kann sagen: Nein, habe ich nicht; mir schwebt nur bedingt mehr vor, als was ein Begriff wie "Fellmütze" ohnehin schon suggeriert hätte, also die pure "Fellmützenhaftigkeit" des Gegenstandes.

Nun habe ich keine verlässlichen empirischen Daten, um zu bewerten, ob ich ein Einzelfall oder in guter Gesellschaft bin. Ich habe jedoch (zugegeben anekdotische) Hinweise aus meiner Tätigkeit als Dozent für Englische Literaturwissenschaft, dass Studierende derartige Beschreibungen auch nur bedingt visualisieren und längere Beschreibungen in Romanen entweder überspringen oder mit erhöhter Lesegeschwindigkeit überfliegen (über letzteres habe ich sogar mal einen Handbuchartikel geschrieben). Es ist meine Aufgabe als Dozent, den Studierenden der Literaturwissenschaft dieses Für-den-Plot-lesen mühsam abzugewöhnen, damit sie einen differenzierteren Blick auf das ästhetische Sprachkunstwerk erlangen. Aber selbst dann erwarte ich von ihnen "lediglich" ein Verständnis für die Formen und Funktionen von Beschreibungen, nicht aber ein deutliches "Bild vor ihrem geistigen Auge". Wäre das Imaginieren Prüfungsgegenstand, ich wäre damals nicht über mein erstes Semester hinausgekommen.

 

Wir halten fest: Detaillierte Beschreibungen unterbrechen den Plot und sie erfordern bei der Entschlüsselung eine Reihe kognitiver Tätigkeiten.

 

Beschreibungen im Rollenspiel

Zurück vom Exkurs der Literaturwissenschaft an den Rollenspieltisch. Hier ist das Beispiel einer Beschreibung aus einem offiziellen DSA-Abenteuer, Rohals Verprechen von Thomas Römer und Hadmar von Wieser (1997):

[Edit: Ich wurde gebeten, eine Spoiler-Warnung einzufügen, was ich gerne tue. Alles bis zur nächsten Überschrift enthält (ein paar leichte) Spoiler zu Rohals Versprechen]

[Dort] liegen dreißig Meilen einer geborstenen grauen Hochfläche, die sich aus der Nähe als unüberblickbare Abfolge granitener Türme und Stöcke erweist, gekrönt von Gipfelgletschern und Wolkenhauben. Zwischen den schroffen Höhen liegen große Schutthalden, Reste schmutzigen Schnees, grüne Almen und dunkle Bergseen, gesäumt von Latschen, Barbaritzen, Almrausch, Edelweiß und Almgras. Nur die niederen Gipfel sind bewaldet, bis zur Baumgrenze findet man Lärchen, Zirbelkiefern, Firunsföhren und Grünerlen. (Invasion der Verdammten 202)

 


Dies also die Beschreibung des Ambossgebirges, das die Held*innen aus großer Höhe vom Rücken des Drachen Faldegorn aus betrachten. Sie sind auf dem Weg zum Finale des ersten Abschnitts von Rohals Versprechen, dem 5. Abenteuer in der DSA-Kampagne Die Sieben Gezeichneten. Vorausgegangen ist diesem Aufstieg ein eher akademischer Teil auf dem sog. Allaventurischen Konvent von fast 22 Abenteuerseiten im Original von 1997 bzw. 33 in der Neuauflage von 2006 (auf die sich alle folgenden Seitenangaben beziehen). Dieser erste Teil auf dem Konvent zählt unter DSA-Spieler*innen nicht unbedingt zu den beliebtesten Teilen der Kampagne. Er enthält Kapitelüberschriften wie "Magierbosparano" (174), "Die Eröffnungsrede" (176), "Allgemeine Diskussionsrunde" (177), "Referat" (180, 183, 187, 195), "Arbeitskreis" (181, 183, 186, 192, 193, 195), "Diskussion" (185, 190, 191, 192, 197). Es wurde also viel diskutiert und referiert, nach dem Motto: "Wenn man nicht mehr weiter weiß – gründet man 'nen Arbeitskreis." Dann ein Drache, dann die Aussicht, den Weisen Rohal zu treffen, endlich passiert etwas. Und auf dem Weg dorthin: die oben zitierte Beschreibung. Eine von mehreren ihrer Art.

 

Der Effekt der Beschreibung: Sie unterbricht, wie wir zuvor festgehalten haben, den Plot - und sie erfordert eine höhere kognitive Aktivierung der Spielenden als es der einfache Begriff "Gewaltiges Bergpanorama" getan hätte.

 

Die Funktion der Beschreibung: Es ließe sich argumentieren, dass die Plotunterbrechung retardierend wirken soll, also auf dem Weg zum (Zwischen)Finale die Spannung durch eine kleine Unterbrechung in die Länge ziehen und bestenfalls dadurch steigern solle. Was aber, wenn die Aufzählung von Bäumen, einige davon auch noch erfunden bzw. "aventurisiert" (wie die Firunsföhren oder die Barbaritzen) eher erheiternd wirken? Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass dieser Vorlesetext an meinem Spieltisch für herzhaftes Lachen gesorgt hat. Das steigert gewiss keine Spannung, sondern senkt sie. Ist es also comic relief, eine Art kathartischer Wirkung, um Spannung abzulassen? Das ist kaum überzeugend, da dieser Szene zahlreiche Arbeitskreise und Referate vorangegangen sind.


Beschreibungen als Aus- nicht Einladungen


Wenn nicht retardierend oder kathartisch, was also ist die Funktion dieser Beschreibung (und von ähnlichen Beschreibungen in Romanen)? Der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes (Foto siehe oben) hat in einem sehr berühmten Aufsatz dafür argumentiert, dass Passagen wie diese nur eine einzige Funktion haben: Sie zeigen Wirklichkeit an, ihr Effekt ist, was Barthes "Realitätseffekt" nannte (effet de réel). Mit anderen Worten: All diese sprachlichen Zeichen sagen nur eins, nämlich "Hallo, wir sind die Wirklichkeit!" Damit statten diese Zeichen Texte mit einer gewissen Wahr-Scheinlichkeit aus, lassen sie als wahr erscheinen, als wahre Abbildungen der Wirklichkeit. In einer rein fiktiven Rollenspielwelt, wie etwa Aventurien, hat die Dichte der visuellen Informationen also vor allem eine Funktion, diese als so wahr wie möglich erscheinen zu lassen. Eine Welt, die mit naturkundlerischer Genauigkeit beschrieben werden kann (von A wie Almrausch bis Z wie Zirbelkiefer), die muss einfach wahr sein!

 

Jedoch hat dieses Wahr-scheinen-lassen einen Nachteil. Wir haben im Deutschen ein schönes Wort für solche Beschreibungen: ausladend (im Duden mit "weit ausgreifend, ausholend" umschrieben). Für mich sind aus den genannten Gründen ausladende Beschreibungen eben genau das: ausladend, also das genaue Gegenteil von "einladend". Sie laden mich nicht ein, sie laden mich aus, schließen mich aus, verlangen von mir geistige Aktivitäten, die ich nur bedingt oder nur unter großen Anstrengungen erbringen kann. Ich habe an mir selbst beobachtet, dass ich, sobald jemand beginnt, visuelle Details aufzulisten, meinen Blick hilfesuchend durch den Raum schweifen lasse oder bestimmte nervöse Übersprungshandlungen mache, zum Telefon greife, mein Glas nachfülle oder, im schlimmsten Fall, an den Nägeln kaue. Aus all diesen Gründen verzichte ich meistens auf lange Beschreibungen im Rollenspiel.

 

Alternativen zur Beschreibung

Eine Beschreibung muss nicht lang und ausführlich sein, muss nicht aufzählen, was sich alles im Gesichtsfeld befindet. Hier sind drei Alternativen zur traditionellen Detailbeschreibung:

 

1. Offene Imaginationsaufträge

Geschlossene Imaginationsreize einer detaillierten Beschreibung lassen sich durch offene Imaginationsaufträge an die Mitspielenden ersetzen. Zum Beispiel würde ich die o.g. Beschreibung des Ambossgebirges durch ein schlichtes "Stellt Euch ein gewaltiges und atemberaubendes Bergpanorama vor!" ersetzen. Damit gebe ich Leuten die Möglichkeit, sich selbst ein Bild zu machen, wobei die Wörter "gewaltig" und "atemberaubend" ein gewisses Lenkungspotenzial beinhalten (der Begriff stammt tatsächlich aus der literaturwissenschaftlichen Forschung, die untersucht hat, wie Leser*innen Texte verstehen; siehe Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens). Jede*r am Tisch wird ein anderes Bild vor dem geistigen Auge haben; mal detaillierter, mal nur grob umrissen. Und Leute mit völliger Aphantasie verstehen an Hand der Lenkungsbegriffe zumindest die Funktion der Szene und können versuchen, in sich das Gefühl wachzurufen, das gewaltige Naturschauspiele in uns auslösen, das Erhabene


Es gibt auch Rollenspiele, die solche Aufträge ritualisiert haben, wie etwa Vivien Féassons Libreté (2017; bald in englischer Übersetzung erhältlich), das immer mit dem gleichen Ritual beginnt, bei dem die SL die Spielenden auffordert: "Schließt die Augen. Schließt die Augen und träumt, träumt von dem Kind, das Ihr einst gewesen seid." Augen schließen und träumen, dass man ein Kind ist, eröffnet größere imaginative Spielräume, als eine detailreiche Beschreibung des Kinderzimmers...

 

2. Paint the scene

Eine andere Methode ist das von Jason Cordova (hier im 3W6-Podcast zu hören) entwickelte "paint the scene". Vielleicht ist die Bezeichnung nicht ganz glücklich, da es gerade nicht darum geht, ein detailliertes Bild zu malen (EDIT 2022: ich habe es daher in der dt. Übersetzung von Brindlewood Bay mit "Die Szene ausmalen" übersetzt, wie die Ausmalbilder meiner Kinder, bei denen schon alles fertig da ist und man nur noch die eigene Farbwahl hinzufügt, um es zu einem schönen, eigenen Bild zu machen). Vielmehr soll man eine Frage beantworten, die etwas (meist Visuelles) mit der Handlung oder der Figur verknüpft. Hier ein Beispiel aus Jasons Blogbeitrag zum Thema (meine Übersetzung): "Was sehen wir, das erkennen lässt, dass diese Stadt früher einmal wohlhabend war, aber nun nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst ist?" Und hier ein Beispiel aus Jasons Brindlewood Bay: "Er ist eine Niete in Geschäftsdingen. Woran erkennt Ihr das, als Ihr Euch sein Büro näher anschaut?" Visuell denkende Spieler*innen können sich nun jedes Detail des Büros vorstellen; funktional denkende Spieler*innen können hingegen über das thematische Feld "Schlechte Geschäftsführung" nachdenken und Begriffe (nicht Bilder!) nennen, die ihnen dazu in den Kopf kommen: "Rote Zahlen", "Stapelweise Rechnungen", "Verpasste Anrufe vom Vermögensverwalter auf dem Display" usw. 


Auch verzichten wir mittels "paint the scene" auf den reinen "Wirklichkeits- oder Realitätseffekt" (nach Roland Barthes, siehe oben), da wir nicht ausladend beschreiben, was sich alles in seinem Büro befindet oder was alles in der heruntergekommenen Stadt zu sehen ist (etwa weil wir meinen, dass sich Büro und Stadt nur dann "wirklich" anfühlen, wenn wir sie bis ins letzte Detail beschreiben). Der Fokus verschiebt sich vom reinen Sehen zum funktionalen Denken: Was ist relevant. Und wenn die Spieler*innen diese Frage auch noch selbst beantworten können (player empowerment), ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich auch noch später dran erinnern werden, viel höher (die sog. Retention).

 

3. Reduktion der Imaginationsreize (oder: mach's kurz!)

Die dritte Methode reduziert die Zahl der gegebenen Imaginationsreize konsequent auf drei. Das sieht man in neueren Rollenspielpublikationen immer öfter. Sie ist ein guter Kompromiss, da sie nicht auf das Beschreiben des Sichtbaren verzichtet, aber dieses so reduziert, dass auch Spielende, die nichts dabei "sehen", es sich immerhin merken und mit der Figur oder dem Ort verknüpfen können (im Stil von "Ach klar, das war doch die Kriegerin mit der Narbe im Gesicht."). Hier zwei willkürlich gewählte Beispiele. 


Das erste kommt aus dem Splittermond-Band Ungebrochen: Zwingard, Termark und die Blutgrasweite (hrsg. von Tilman Hakenberg, Matthias Klahn, Stefan Unteregger, unter Mithilfe von Jörg Löhnerz; 2018). Dort heißt es z.B. in der Beschreibung des Herzogtums Felisawa, Abschnitt "Wer ist wer in Felisawa":

[…] Airich der Schildsass (Mensch, *977 LZ, Sohn des Herzogs, blasses Gesicht, stechende blaue Augen, wortgewandt), Usbirke die Krächzende (Mensch, *902 LZ, Hofzauberin des Herzogs, hager, kahler Schädel, krächzende Stimme, zynisch), […] Ortwin der Rastlose (Varg, *941 LZ, Thain von Borgensbrynn, zahnlos, vernarbt, langes, schlohweißes Gesichtshaar, verbittert). (10)

Die Reduktion auf drei Details reduziert gleichzeitig auch die kognitive Energie die aufgewandt werden muss, um sich ein Bild vorzustellen. Zahnloser, vernarbter Varg mit langem, schlohweißen Gesichtshaar kann man sich auch dann gut merken und über einen längeren Zeitraum behalten, wenn man es nicht vor dem geistigen Auge "sieht" (nach einer Weile weiß man vielleicht noch etwas wie "Ach ja, der Varg mit dem weißen Haar!").




Das zweite Beispiel stammt aus Daniel Heßlers Abenteuer Hornbrüder aus der DSA-Box Dunkle Zeiten:

[…] Halefs weibliche Jünger. Ihre Wortführerin Rag'Atha (38, dreckigbraune verfilzte Zöpfe, einohrig, vernarbt) bedankt sich knapp bei den Helden und verabschiedet sich mit den Worten "bis morgen". […] An diesem Abend werden die siegreichen Helden noch öfter von anwesenden, vornehmlich jugendlichen Bewunderern auf einen Tee oder Schnaps eingeladen. Hier kann sich der schmucke Rashid ben Wesram (16, schwarze Haare, braungebrannt, Ringe in den Brustwarzen) oder seine ebenso hübsche Schwester Shenja (17, große schwarze Augen, zahlreiche Ohrringe) hervortun. (70)

Die Figuren erhalten auch hier nach Nennung ihres Namens in Klammern angegeben drei (max. vier) kurze Merkmale. Die lassen natürlich viele Leerstellen, welche die Spieler*innen selbst auffüllen müssen, aber wer, wie ich, über geringere visuelle Vorstellungskräfte verfügt, kann die Figur einfach an Hand eines konkreten Merkmals abspeichern ("Rag'Atha? Das war doch diese Einohrige, oder?") und ggf. von dort aus weiter "ausschmücken". Oder man muss sie gar nicht detailliert imaginieren, sondern kann schlicht ihre Funktion verstehen: Rashid und Shenja sind schön und ihre Funktion ist es, die Held*innen in dieser Szene begehrenswert erscheinen zu lassen.

 

Zwei wichtige Hinweise zum Schluss

Abschließend der wichtige Disclaimer, dass Beschreiben oder Nichtbeschreiben kein Gradmesser für gutes oder richtiges™ Rollenspiel ist. Ich kenne immerhin genau einen Spieler, für den es nicht genug visuelle Details geben kann und der sie sich auch beeindruckend genau und lang merkt; er scheint einfach ein sehr visuell denkender Mensch zu sein. Das ist aber nicht jede*r und manche von uns (wie ich) sind es schlicht gar nicht. Probiert einfach verschiedene Wege aus, Visuelles in Euer Rollenspiel einfließen zu lassen. Aber geht ruhig einmal kritisch mit dem Gedanken um, dass die Norm-Antwort auf die Aufforderung "Beschreib mal" ein penibles Inventarisieren sein muss und dass Beschreibungen unter 5 Minuten Redezeit wertlos (weil detailarm) sind. 

 

Der zweite wichtige Disclaimer: Meine Beispiele sind recht zufällig gewählt. Ich möchte weder die Beschreibungsdichte noch die Dramaturgie von Rohals Versprechen ins Lächerliche ziehen. Das Abenteuer ist nun fast ein Vierteljahrhundert alt und ich habe Grund zu der Annahme, dass die beiden Autoren Abenteuer heute nicht mehr so schreiben würden. Und dass ich die Arbeit von Thomas und Hadmar wirklich sehr schätze und liebe, wissen alle, die mich kennen. 

Eine Aufforderung zum Schluss

Wie gesagt: ich habe keine empirische Datenbasis, um meine Behauptungen zu belegen. Kennt Ihr Forschung dazu? Her damit! Habt Ihr Erfahrungen mit dem Vorstellen von am Rollenspieltisch beschriebenen Wesen und Orten? Erst recht her damit! Habt Ihr schon einmal Konflikte am Tisch gehabt, weil zu viel/zu wenig beschrieben wurde? Lasst es mich wissen. Ich bin wirklich neugierig, mehr davon zu hören, wie es Euch mit Beschreibungen geht. 

6 Kommentare:

  1. Spannend, gerade die Option " Paint the scene" finde ich bemerkenswert, mache mir aber natürlich Sorgen um die Immersion. "Stellt euch ein beeindruckendes Gebirge vor" ist für mich schon fast Meta. Die traditionelle Beschreibung bleibt da mehr in der Szene.

    Auch würde ich gerne noch zwischen Abenteueranfang und später im Verlauf unterscheiden wollen. Eine gute Beschreibung ( nicht zu detailliert natürlich) kann die Stimmung eines Abenteuers festlegen. Wenn ich am Anfang sage: Ihr seht ein Gebirge stellt es euch imposant vor, dann nehme ich mir da die Möglichkeit die Spieler mit meiner Grundstimmung vertraut zu machen.
    Dass ellenlange Beschreibungen eines Flussbettes oder der Uniform eines Generals aber eher hinderlich sind das finde ich durchaus einleuchtend und dass man das alles gar nicht verarbeiten kann sowieso.
    Danke für die haufen Arbeit. Schöner Artikel.
    Gruß marot

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    1. (Mist, habe eine ausführliche Antwort geschrieben und die hat das Internet verschluckt... grmpf).

      Die zentrale Message meiner Antwort war, grob gesagt, Immersion kann ich mir auch mit minimalen "visual clues" vorstellen. Unser Quietus-Spiel, Marot, war auch eher beschreibungsarm, da lief fast 90% über unseren Dialog, findest Du nicht? Das war dennoch sehr intensiv und schön.

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  2. Mein Stichwort zu Beschreibungen im Rollenspiel ist "Relevanz".

    Um es am Beispiel der angeführten Fellmütze zu erklären: sie wird nur erwähnt, wenn es wichtig ist (z. B. wenn es um Wilderer oder Pelzjäger geht oder wenn sie im Hochsommer als Hinweis dienen soll). Ich ignoriere auch die meisten Vorlesetexte, nehme lieber Stichworte daraus und fasse das Notwendige in eigene Worte. Wenig stört den Spielfluss mehr als Vorlesetexte ;)

    "Paint the scene" finde ich interessant, steht auf meiner "Mal mehr mit Beschäftigen"-Liste. Ein wenig in die Richtung geht die Örtlichkeit vieler meiner One Shots: Sie spielen "dort wo das Mittelreich am mittelreichigsten ist". Dieses Adjektiv ruft bei jedem andere Assoziationen hervor, die in der Gesamtheit wohl ein recht passendes Bild ergeben.

    Die kurzen Merkmale nutze ich auch. Relevante NSCs kommen auf eine den Spielern zugängliche Liste mit eben solchen Merkmalen: Ungefähres Alter, ein körperliches Merkmal, ein Merkmal zu Charakter oder Umgang mit anderen. Das letztere versuche ich auch darzustellen.

    Ansonsten... dummerweise beschreibe ich gern. Ich möchte gern, dass meine Spieler nachvollziehen können wie ein Ort ist, wie er aussieht, wie es dort riecht und wie die Stimmung ist. Da muss ich mich manchmal bremsen (oder bremsen lassen). Die richtige Mischung hängt wohl auch von den Spielern ab: Wollen sie nur drei, vier Stichpunkte um dann zu "wichtigeren" Dingen zu kommen oder wollen sie auch gern mehr wissen über Orte und Personen?




    PS: Ich habe übrigens im Französisch-Leistungskurs die "Madame Bovary" gelesen und, auch wenn ich mich kaum noch daran erinnern kann, im Nachhinein jetzt die Vermutung, dass es eine stark gekürzte Version war. Nicht dass mir solch lange Beschreibungen an sich aufgestoßen wären (ich habe mich ziemlich früh durch eine Karl-May-Gesamtausgabe gelesen und gehöre zur "Querlesen-und-Stichworte-aufgreifen-Fraktion), sondern weil diese Detailfülle sicherlich meinen Wortschatz überfordert hätte.

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    1. Ja, Relevanz ist ein gutes Stichwort. Ist natürlich immer Verhandlungssache, was relevant ist. In Rollenspielen mit traditioneller SL entscheidet v.a. diese Relevanz. In Spielen mit mehr player empowerment (PbtA, Fate, "Erzählspiele") wird Relevanz von Spieler*innen mitbestimmt. Bei SL-losen Spielen wird sie ohnehin gemeinsam ausgehandelt.

      Und zu Madame Bovary: Hab es auf Grund mangelnder Französischkenntnisse leider nur in Übersetzung gelesen. Es gibt einige sehr detaillierte Beschreibungen. Das ist bei Romanen des Realismus die Norm.

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  4. Marcus Jürgens25. Juli 2020 um 19:05

    Meine Vorstellung von Spielfiguren sieht tatsächlich so aus, dass ich mir vorstelle, wie ihre Namen geschrieben werden und diese Schriftzüge dienen dann als Avatare der Figuren. Das gilt auch für meine eigenen Figuren.

    Wenn ich versuche, mir Figuren zu visualisieren, suche ich mir Grafiken oder Fotos raus. Dass das relativ beliebig ist, kann ich daran sehen, dass die Haarfarbe meiner Firnelfe auf den verschiedenen grafischen Darstellungen, die ich für die raussuchte, ständig wechselt: Von weiß über blond bis zu schwarz.

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